Alte Sorten

Woher bekomme ich alte Sorten?

Das ist eine wirklich gute, eine spannende Frage! In früheren, längst vergangenen Zeiten hat man außer den ererbten Gebäuden, Flächen und Tieren auch die Sorten von den (Schwieger-)Eltern oder ferneren Verwandten übertragen bekommen oder nahm sie als Aussiedler mit. Man war ja auf dem Hof aufgewachsen und nicht nur mit den Arbeitsabläufen bestens vertraut, sondern kannte auch die Geschichte der eigenen Sorten, schätzte deren besondere Merkmale, wusste um ihre Möglichkeiten, aber auch um ihre Grenzen.

Jede Generation trachtete danach, die eigenen Saaten weiter zu verbessern. Mit den Nachbarn wurde daher getauscht, auf den Märkten gelegentlich zugekauft. Außerdem kamen über Klöster, Herrschaftshäuser und Kriegsheimkehrer neue Kulturen ins Land, die über kurz oder lang in das Allgemeingut übergingen

Aussaat des Wintergetreides im 15. Jahrhundert (aus den Très Riches Heures du Duc de Berry, 1410-1489, Miniatur: Oktober, Detail / gemeinfrei)

Die enge Bindung an die Landwirtschaft und die Erhaltungsverantwortung für unsere eigenen Lebensgrundlagen haben wir durch die Arbeitsteilung innerhalb der Gesellschaft und im Zuge der Spezialisierung abgelegt. Sie ist uns von jenen Menschen abgenommen worden, die Bauern bzw. Landwirte oder Gärtner bleiben konnten, dies durften oder es mussten. Auch Gärtner und Landwirte pflegen mitunter aus traditionellen Gründen noch ihre althergebrachten Sorten, meist jedoch nur noch für den Eigenbedarf. Für den Markt werden Waren eigens in vertraglich geregelter Menge und Güte produziert. Das von Zuchtfirmen oder spezialisierten Vermehrungsbetrieben käuflich erworbene Saat- und Pflanzgut garantiert die von der verarbeitenden Industrie und von den Verbrauchern geforderte Qualität und Einheitlichkeit.

Ob in der Neuen (Kuba, links) oder in der Alten Welt (Österreich, rechts): Bäuer*innen und Gärtner*innen erhalten die Sortenvielfalt. (© Thomas Gladis)

Aus den fürstlichen Orangerien, aus universitären Heilpflanzengärten und kaiserlichen Kolonialschulen sind die Botanischen Gärten hervorgegangen, von denen nicht wenige auch Lebendsammlungen von Kulturpflanzen unterhalten. Hier kann man noch einzelne Sorten repräsentativer Arten der landwirtschaftlichen Geschichte und Gegenwart finden, selten größere Sortimente.

Dafür wurden ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts die meist staatlich finanzierten Genbanken und Spezialsammlungen geschaffen. Sie leisten einen wertvollen Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität von Kulturpflanzen, verwandten Wildarten und anderen lebenden Zeugen der Evolution und Domestikation, die in der modernen Agrarlandschaft kaum noch Überlebenschancen haben – wie beispielsweise die Unkräuter. Gleichzeitig verstehen sie sich als Dienstleister für wissenschaftliche, züchterische und kulturhistorische Fragestellungen, aber auch für Bildungsprogramme. Genau wie die Botanischen Gärten geben sie nur kleine Muster für den nicht-kommerziellen Bedarf ab. Wer sich durch das aktuell 14-seitige Standard Material Transfer Agreement und die Bearbeitungsgebühr nicht abschrecken lässt, kann hier auch als Privatperson Saatgut bzw. Pflanzen außergewöhnlicher Arten und Sorten erwerben: https://www.ipk-gatersleben.de/gbisipk-gaterslebendegbis-i/.

Blick in den Alten Botanischen Garten in Havanna (© Thomas Gladis)
Sortensichtung (Vergleichsanbau) und Vermehrung von Salaten (© Thomas Gladis)

Seit den 1980er Jahren erstarkt in vielen Ländern der Welt eine Bewegung gleichgesinnter Menschen, die sich bewusst, gesund und – sofern möglich – wieder zunehmend als Selbstversorger ernähren wollen. Begünstigt durch sich häufende Lebensmittelskandale und z.B. Medienberichte über Rückstände von Pestiziden in der Nahrung kehren sie sich von der schwer kontrollierbaren industrialisierten Landwirtschaft ab und suchen zum Beispiel in der Ökologischen Landbewirtschaftung und in der solidarischen Landwirtschaft Möglichkeiten der Selbstbeteiligung oder wenigstens der Einflussnahme auf die Erzeugung ihrer Lebensmittel.

Dazu gehören die enge Bindung an die Region, an eine bestimmte, umweltverträgliche Produktionsweise, die Auswahl der Arten und eben auch die Suche nach geeigneten Sorten, die nun nicht mehr zwingend an industrielle Verarbeitungsmethoden angepasst sein müssen, die sich vielmehr durch eine Vielfalt an Aromen, sekundären Pflanzeninhaltsstoffen und vor allem durch eine gute Bekömmlichkeit auszeichnen dürfen. Robustheit und ein weites Erntefenster sind neben der Unabhängigkeit von synthetischem Pflanzenschutz und künstlicher Düngung weitere Merkmale, die diese Sorten zum Anbau in der Subsistenzlandwirtschaft qualifizieren. Das Aussehen hingegen ist eher sekundär und beeinträchtigt die Wertschätzung für die Lebensmittel aus eigener Erzeugung kaum.

In diesem Punkt treffen sich die an einer gesunden Ernährung Interessierten mit den bereits in Vereinen und Netzwerken organisierten Sortenliebhabern, die durch eine kontinuierliche erhaltungszüchterische Bearbeitung die Anpassung ihrer vielen Pflanzensorten an die jeweiligen lokalen Klima-, Boden- und Nutzungsbedingungen vorangetrieben haben. Sie können nur in marktwirtschaftlich unbedeutenden Mengen Saatgut für eben jene Klientel anbieten, die von der auf Industriesorten spezialisierten Züchtung und Züchtungsforschung nicht bedient, wohl aber hinsichtlich der Saatgutverfügbarkeit „alter Sorten“ stark reglementiert wird.

Im deutschsprachigen Raum sind viele der Nicht-Staatlichen bzw. Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs, NROs) Mitglieder im Dachverband Kulturpflanzen- und Nutztiervielfalt. Eine gemeinsame Sortenliste pflegen sie nicht. Jede dieser Initiativen handelt eigenverantwortlich, trifft sich mit anderen aber zum fachlichen und politischen Austausch.

Kleiner Ausschnitt aus der Sortenvielfalt von Mais und Chayoten (© Thomas Gladis)

Ein Vorteil der drastischen Beschränkung von Handelsmengen bzw. gar eines generellen Verbotes des Handels mit Saatgut in der EU nicht zugelassener Sorten besteht unzweifelhaft darin, dass sich selbst um die Erhaltung, züchterische Bearbeitung und Saatgut-Vermehrung kümmern muss, wer auch immer an diesen Spezialitäten einen Narren gefressen hat. Wie einst auf den oben genannten historischen Bauernhöfen bleiben so das Wissen um die Techniken und die praktischen Fertigkeiten als Kulturgut lebendig. Sie werden tradiert und ebenso wie die Sorten selbst weiterentwickelt.

Die geringe Verfügbarkeit birgt aber auch den Nachteil, dass bestimmte Bildungsaufgaben nicht flächendeckend mit einem festgelegten Satz an Handelssorten bedient werden können – und sei es nur das praktische Nachvollziehen der Kreuzungsexperimente von Gregor Mendel (1822 - 1884) und anderer auf ihn folgender Genetiker, die u.a. den Hybrid-Effekt entdeckt und wirtschaftlich verwertet haben. „F1-Hybrid“ steht inzwischen auf fast jedem bunt bedruckten Saatgut-Tütchen in Bau- und Gartenmärkten, aber wer weiß noch, was es damit auf sich hat? Die genetischen Grundlagen sind zwar im Biologie-Unterricht irgendwann einmal theoretisch vermittelt, doch zu 98 % wieder vergessen worden, eben weil diese Experimente an den Schulen, ja selbst an den Universitäten nirgendwo mehr praktisch nachvollzogen werden.

Eine weitere, fast unerschöpfliche Quelle für Saatgut alter, samenfester Sorten darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. In der praktischen Landwirtschaft fest verwurzelte Menschen und auch solche, die nur über einen winzigen Gemüsegarten verfügen, trifft man selten gänzlich ohne Saatgut oder frische Ernte an, ohne Jung- oder Teilpflanzen im Fahrradkorb oder Kofferraum, in Hosen- und Jackentaschen, Rocksäumen, Schuhen oder Strümpfen.

Die enge Bindung an den Boden und an ihre unmittelbaren Lebensgrundlagen, die nicht selten bestehende offenkundig elementare Not lässt ihnen viel weniger gedankliche Freiräume, als wir immer satten, technikbesessenen Mitteleuropäer für uns beanspruchen. Wenn diese Menschen dann noch durch wirtschaftliche, politische oder militärische Gewalt entwurzelt werden und andernorts ihr Glück versuchen müssen, säen sie sogleich wieder aus, was sie mitbringen, hinüberretten konnten, sobald es die Umstände erlauben. Was wir zu essen und trinken gewohnt sind und mit ihnen teilen möchten, bekommt ihnen oft nicht und widerspricht ihren Gewohnheiten.

Gärtnerin in Bonn mit der Kulturpflanzenvielfalt ihrer Heimat (© Thomas Gladis)

Als in den 1960er Jahren die ersten Gastarbeiter nach Deutschland kamen, ging es ihnen ähnlich. Noch heute bewirtschaften sie Brachland und Kleingärten nach ihrer Sitte und mit den pflanzlichen Mitgliedern ihrer Familien, wo immer dies möglich ist und toleriert wird.

Mitten in Berlin, im Kreuzberger Baumhaus an der Mauer hatte Osman Kalin (1925 - 2018) u.a. Saatgut von seinem original türkischen Schwarzkohl nachgebaut und an Interessenten verschenkt. Ob diese Tradition wohl wieder auflebt, wenn das Baumhaus Museum geworden sein wird?

tg 2020-09-11

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