Wo man auch hinschaut, heute schmückt sich fast alles mit einem „Bio“- oder sogar „Öko“-Label. Hinter einigen Prozessen steckt bereits und an immer mehr Produkten hängt sogar ein richtiges Zertifikat, so eines mit Urkunde, Datum, Stempel, Unterschrift und Siegel. Ökologie mit System halt, könnte man meinen. Vielleicht ist das ja auch so, doch ursprünglich handelt es sich bei dem Wort „Ökosystem“ um einen Fachbegriff der ökologischen Wissenschaften, einer Teildisziplin der Biologie.
Dabei geht es um das Zusammenleben von Individuen mehrerer Arten in ihrer unbelebten Umwelt: LG und WG gewissermaßen, Lebens- und Wohngemeinschaften in einem also. Das müsste doch für jemanden mit LG- bzw. WG-Erfahrungen spannend klingen, oder?
Ein bisschen Wehmut schwingt bei mir schon dabei mit, denn allmählich verblassen die Erinnerungen an längst vergangene Zeiten. Doch Gedächtnis und Vergessnis arbeiten bekanntlich sehr selektiv; sie sind die beiden, dem Licht zu- oder eben abgewandten Seiten derselben Medaille: Mehr oder weniger „dynamische Komplexe von Gemeinschaften aus Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen sowie deren nicht lebender Umwelt, die als funktionelle Einheit in Wechselwirkung stehen“ sind mir aus eigenen WG-Zeiten jedenfalls noch sehr lebhaft präsent.
Je nachdem, zu welcher Tages- oder Nachtzeit man ein Biotop innerhalb unserer Wohnung betrat, war die Zusammensetzung der gerade aktiven Arten eine andere, insbesondere dann, wenn die Küche abends nicht bereits von einem Artgenossen besiedelt war. Nur Clothilde, unsere fette Winkelspinne, die saß fast immer unbeweglich am Eingang ihres Netztrichters zwischen Kühlschrank und Spüle, weit entfernt von ihrem schmächtigen Herrn Gemahl, der im Bad logierte. Gierig fiel sie über die Dörrobstmotten, die Gold- und die Stubenfliegen her, die wir ihr gelegentlich zuwarfen. Blitzschnell zog sie sich dann mit der Beute in ihren Krater zurück, wohl aus Angst, wir könnten es uns noch einmal anders überlegen. Die nervösen Zitterspinnen an den Decken hingegen wollten nicht wahrgenommen werden und bekamen folglich auch keine Namen. Um die flinken Silberfischchen am Boden, um die behäbigen Bücherskorpione an der Tapete, um die etwas gespreizt an den erst im vergangenen Jahrtausend liebevoll in Keramik und Fliesen gefassten, von uns jedoch nur sporadisch geputzten Quellen der Fließgewässer herumwuselnden Schmetterlingsmücken und um die unsichtbaren Hausstaubmilben, falls wir denn jemals welche hatten, mussten wir uns ebenso wenig sorgen wie um das Aussterben der Schimmelpilze im Brotkasten. Sie alle wurden durch die Einhaltung der Hausordnung in ihrem Bestand kaum ernsthaft gefährdet.
Nicht schriftlich geregelt war allerdings die Grundversorgung der Zimmerpflanzen und der Blumen mit Wasser und vor allem mit Licht. Irgendjemand stellte die Töpfe oder Sträuße beharrlich immer wieder in die dunkelste Ecke des fensterlosen Flurs, wo sie nach ihrem Ableben von Zeit zu Zeit durch frische ersetzt wurden.
Wie schön, dass der Fachbegriff „Ökosystem“ wissenschaftlich korrekt nur neutral, also werturteilsfrei zu gebrauchen ist. Ursprünglich war die Ökologie, auch die Großstadtökologie, als Grundlagenforschung durch eine rein deskriptive, aber statistisch abgesicherte Arbeitsweise gekennzeichnet. Daraus haben sich die angewandten Disziplinen erst entwickelt, die sich den Problemen der Land- und Forstwirtschaft, der Gewässerreinhaltung sowie der Hygiene für Mikrobe, Pflanze, Pilz, Tier und Mensch zugewandt haben. Je nach dem Blickwinkel und denn zu beobachtenden Objekten, unterscheidet man zwischen der Autökologie, die die Wechselwirkungen zwischen den Individuen einer Art und den Umweltfaktoren erforscht, der Demökologie bzw. der Ökologie der Populationen und der Synökologie, die die komplexen Lebensgemeinschaften mit ihren Energie- und Stoff-Strömen bzw. -Kreisläufen untersucht.
Ein Agro-Ökosystem beispielsweise ist ein beliebiges Ökosystem, das der Mensch zum Zweck einer landwirtschaftlichen oder gartenbaulichen Nutzung geschaffen hat oder nutzt und das er bewirtschaftet: Ein Acker, ein Garten, ein Fischteich, eine Rinderkoppel, ein Hochbeet, ein Balkonkasten mit Gemüse, aber auch ein Chili- oder Basilikum-Topf auf dem Fensterbrett.
tg 2020-07-10