Nach der unvorstellbar langen Zeitspanne von 34 Millionen Jahren – oder anders ausgedrückt, vor der kleinen Ewigkeit von rund 12.000 Jahren endete der letzte Weltwinter, die als Würm- bzw. Weichsel-Kaltzeit bezeichnete jüngste der Eiszeiten. Der Klima-Wechsel zwischen Kalt- und Warmzeiten fand damit sein vorläufiges Ende.
Klimageschichtlich und geologisch nachgewiesen sind fünf Interglaziale, also Zwischeneis- oder Warmzeiten. Die jüngste dauerte „nur“ 11.000 Jahre, die älteste hielt weit über eine Millionen Jahre an. Zu Beginn einer jeden Warmzeit schmolzen die Gletscher allmählich ab. Das „ewige Eis“ kam erneut voran, ging dann weiter zurück und gab schließlich einen völlig kahlen Untergrund frei: Fels, Sedimente, durch die Bewegung des Eispanzers geschliffene Findlinge, Geröll, Kies und Sand.
Algen und Flechten, bald auch Moose, Bärlappe, Schachtelhalme und Farne stellten sich ein. Ihre und die Sporen von Pilzen kann der Wind ebenso über weite Strecken transportieren, wie er die Samen höherer Pflanzen verbreitet, darunter auch jene von Bäumen und Sträuchern, beispielsweise von Fichten und Kiefern, Birken, Pappeln und Weiden. Diese gegen Umwelteinflüsse sehr toleranten, meist aber konkurrenzschwachen Pionierpflanzen sind in der Lage, Rohböden zu besiedeln. Säugetiere und Vögel verschleppen Früchte und keimfähige Samen, die sie als Wintervorrat verstecken. Andere Sämereien bleiben an ihren Körpern haften oder passieren unbeschadet ihren Darmtrakt. Kleinlebewesen nutzen die größeren, mobileren Arten als Transporthilfen. Das Bild, das die Landschaft zwischen den Eiszeiten prägte, wandelte sich dadurch ständig. Es wurde grün und dabei immer reichhaltiger, bunter. Fruchtbare, belebte Böden entstanden – bis die nächste Kaltzeit anbrach und die Bedingungen für Pflanzen und Tiere wieder unwirtlicher wurden, sie erneut zum Rückzug in wärmere Gefilde zwangen oder gar aussterben ließen.
Schon in den letzten beiden Warmzeiten erschienen neben den Pflanzen und Tieren auch Menschen auf dem Plan. Diese ersten Menschen lebten und überlebten in Mitteleuropa als Jäger und Sammler, liebe Vegetarier und Veganer. Sie konnten nicht in Wochen- oder Supermärkten auswählen, sondern mußten sich von dem ernähren, mit dem kleiden, was die Natur ihnen im Rhythmus der Jahreszeiten darbot; und sie verschwanden wieder, als die nächste Eiszeit heraufzog. Ihre wertvollen, noch verwendbaren Steinwerkzeuge, ihre Spinnwirtel, Lanzen, Pfeile und Bögen nahmen sie dabei mit.
Vor 12.000 Jahren, unmittelbar nach der Weichsel-Kaltzeit, kamen die Menschen zurück; diesmal jedoch, um zu bleiben. In der Jungsteinzeit verlagerte sich der Schwerpunkt ihrer Wirtschaftsweise von der aneignenden Nutzung der Natur zu deren produktiver Veränderung. Zeugnisse dieses als neolithische Revolution bezeichneten Übergangs, des menschlichen Strebens nach Unabhängigkeit von den Naturgewalten, sind uns aus der aufkommenden Agrikultur überliefert. Was man essen konnte, was wofür nützlich oder verwendbar ist, wußten die Menschen längst. Sie zähmten nun und versuchten Tiere zu domestizierten, um nicht mehr vom Jagderfolg abhängig zu sein. Sie schonten wertvolle Fruchtbäume und versuchten sich im Anbau von Pflanzen, legten Vorräte an, erlernten Entgiftungs- und Konservierungstechniken. Dies alles geschah weniger, um sich bewußt, vielfältig und gesund zu ernähren, sondern schlicht, um zu überleben. Die Landbewirtschaftung erforderte von den Ackerbauern, daß sie seßhaft wurden. Nur die reinen Hirtenvölker behielten ihr Wanderleben bei – was den biblischen Bruderzwist zwischen Kain und Abel bis heute immer wieder aufflammen läßt. Die einen ziehen und verteidigen Grenzen, die anderen fordern uneingeschränkte Freizügigkeit …
Der Begriff der neolithischen Revolution ist in der globalen Betrachtung keinesfalls zu hoch gegriffen. Was sich hier in Mitteleuropa abspielte, geschah zeitgleich und unabhängig voneinander überall auf der Welt, wo Landwirtschaft möglich ist. Ausgehend von den in der Natur verfügbaren Ressourcen aus der Flora und Fauna gingen die Menschen in allen Klimazonen und auf allen Kontinenten dazu über, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Dabei ließen sie nichts unversucht. Warum kann man einige Tierarten zähmen und sogar in Gefangenschaft vermehren (Kaninchen, Haushuhn), andere, ähnliche (Feldhase, Rebhuhn), hingegen nicht? Innerhalb der Familie der Hirsche oder Geweihträger (Cervidae) beispielsweise gelang dies nur beim Ren. Unter den nahe verwandten Rindern oder Hornträgern (Bovidae) gibt es neben zahlreichen wildlebenden und einigen mit dem Menschen lose assoziierten immerhin auch mehrere hoch domestizierte Arten mit jeweils zahlreichen Rassen.
Nicht grundsätzlich anders stellt sich diese Frage bei den heutigen Kulturpflanzen, die es damals ja alle noch gar nicht gab. Vor allem in Steppengebieten ernährten sich die Menschen neben Fleisch hauptsächlich von den Früchten vieler Süßgräser. Nur wenige Wildarten lassen in der Kultur Merkmale erkennen, die den Anbau lohnen. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn die Spelzen das nahrhafte Korn zwar leicht freigeben, doch wenn die Ähren, Kolben und Rispen bei der Reife weder zerbrechen noch die Körner von den Pflanzen abfallen. Das ist bei Hafer so, bei den Hirse-Arten und bei Teff. Bei anderen nimmt sogar die Korngröße und deren Anzahl je Pflanze zu, wie wir es von der Gerste kennen, von Reis, Weizen und vom ertragreichsten Süßgras der Welt, dem Mais. Solche wertvollen Pflanzen – wir bezeichnen sie als primäre Kulturpflanzen – wurden sorgfältig ausgelesen und vermehrt. Ungräser wie Borsten-, Finger- und Hühnerhirse, Jährige Rispe, Quecke und Windhalm mögen hier stellvertretend für all jene Arten genannt sein, die sich der Nutzung durch den Menschen entziehen. Die unabsichtliche, weltweite Verbreitung verdanken diese invasiven Arten der globalen Landwirtschaft, dem weltweiten Waren- und Personenverkehr.
Der vom Menschen neu geschaffene Lebensraum Acker ist überall auf der Welt recht ähnlich beschaffen und bietet vielen Arten aus zahlreichen Pflanzenfamilien Lebensraum, die sich der betreffenden Trägerkultur als Unkräuter vom konvergenten Entwicklungstyp anzupassen vermögen – oder die sich wie die genannten Ungräser verhalten, sich der Nutzung also auf unterschiedliche Weise entziehen und somit zum divergenten Typ gehören. Sofern die Bewirtschaftung und der Strukturreichtum dies zulassen, finden sich nun auch immer mehr Tierarten auf den landwirtschaftlichen Flächen ein. Können sie sich hier massenhaft vermehren und von den angebauten Pflanzen ernähren, verursachen sie nicht selten erhebliche Schäden und Ernteeinbußen.
Am Beispiel des Roggens kann man die Karriere eines Wildgrases vom konvergenten Typ verfolgen. Er kommt noch heute als ausdauernde Wildpflanze und als kurzlebiges, aber winterhartes und äußerst anspruchsloses Ungras in Weizenfeldern vor. Roggen hat sich dem feldmäßig angebauten Weizen hinsichtlich der Höhe, Reifezeit, der zähen Ährenspindel und des festen Sitzes der ähnlich großen Körner seiner Trägerkultur so weit angenähert, daß er nun als eigenständige, sekundäre Kulturpflanze angebaut wird: Zunächst in Weizen-Landsorten geduldet, ist sein Anteil bei der Ernte von kargen Böden und in feuchten, kühlen Jahren höher, auf fetten Böden und in trocken-warmen Lagen geringer. Im Sinne der Ernährungssicherheit besteht in der Kombination dieser beiden Gräser im Feldbestand ein unzweifelhafter Vorteil für die Menschen! Erst in der Moderne und im Zuge der Industrialisierung werden für die Verarbeitung zu Mehl und Brot einheitliche Chargen gewünscht. Somit steht entweder eine sehr homogene Weizensorte auf dem Acker oder eben eine Hybridsorte vom Roggen. Ernte-Einbußen oder gar Ausfälle sind damit leider vorprogrammiert.
Findige Wissenschaftler haben seit Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder versucht, die „guten“, für den Menschen nützlichen Eigenschaften beider Gattungen in einer Pflanze zu vereinen. Damals schlug in den Kulturgefäßen mehrerer Züchterlaboratorien fast gleichzeitig die Geburtsstunde von Triticale, einer künstlichen Verschmelzung zweier Pflanzen-Arten und sogar -Gattungen: Weizen (Triticum spp.) und Roggen (Secale cereale L.). Bis heute wird dieses älteste gentechnisch erzeugte Konstrukt überwiegend als Futtergetreide angebaut, da die erhofften Backeigenschaften nicht an die Qualität einer Mischung beider Ausgangsarten heranreichen. Inzwischen haben die ältesten, aus zahllosen Kombinationen von di-, tetra- und hexaploiden Weizenarten mit diploidem Roggen bzw. Kreuzungen unterschiedlicher Triticale-Stämme untereinander hervorgegangenen Sorten mit weit über 100 Jahren ein beträchtliches Alter erreicht. Es sind also schon recht alte Sorten darunter.
Bleiben wir im Getreidefeld, finden wir vielerorts und immer noch so häufig, daß sich das Sammeln lohnt, ein weiteres Unkraut, das zu einer sekundären Kulturpflanze geworden ist und sich regional besonderer Beliebtheit erfreut, den Feldsalat. Von diesem Baldriangewächs gibt es mehrere Wildarten, doch von zweien auch Zuchtsorten. Regionaler Beliebtheit erfreut sich der ‘Kölner Palm‘ als wohl einziger Vertreter der einen Art. Die Blätter der kleinen Rosetten sind eher hell, gelbgrün und schlank. Viel weiter verbreitet und mit zahlreichen Sorten vertreten ist die andere Art, die sich bei guter Düngung und nicht zu engem Stand durch dunkelgrün glänzende, breitere Blätter auszeichnet. Nun sind es aber gerade die eher nährstoffarmen Standorte an Feldrändern und die deutlich zarteren Blättchen, die den Feinschmeckern unter uns die etwas mühsame Suche nach den wertvollen, fein-aromatischen Wildpflanzen lohnender erscheinen lassen als die Zubereitung der leicht verfügbaren, optisch zudem ansprechenderen Handelsware, selbst heutzutage!
Hinsichtlich der Domestikation von Pflanzen unterscheiden wir zwischen Feldbau und Gartenkultur. Besonders wertvolle Gewächse wie Obst, Kräuter, Gemüse, Blumen wurden und werden auf Flächen gesät und gepflanzt, die durch Hecken, Mauern oder Zäune vor Wildtieren und Dieben geschützt sind. Die Auswahlkriterien für den Nachbau der Haus- und Hofsorten sind andere und erfordern mehr Aufmerksamkeit als den Feldkulturen in der Regel zuteil wird. Bestimmte Gehölze wie Obst, Reben und Rosen werden sogar veredelt. Die Anzucht von Jungpflanzen erfolgt unter Schutznetzen, Folie oder Glas, nicht selten auch auf dem Fensterbrett. Die Ertragssicherheit ist zwar von einiger Bedeutung, doch die Inhaltsstoffe, Aromen, Farben und der Geschmack, die möglichst ganzjährige Verfügbarkeit frischer Erzeugnisse genießen bei gartenbaulichen Kulturpflanzen einen ungleich höheren Stellenwert als bei den Feldkulturen. Hier wird also ganz anders selektiert, viel individueller. Außerdem spielen Gewohnheiten, Vorlieben und Traditionen eine große Rolle.
Wann immer aus bäuerlichen Verhältnissen stammende Menschen ihren Wohnort wechseln, ihre Heimat verlassen, nehmen sie etwas Vertrautes, Überlebenswichtiges mit. Sei es anläßlich einer Heirat, durch Not, Krieg und Vertreibung oder schlicht, weil sie darauf hoffen, sich andernorts ein besseres Leben aufbauen zu können, halten sie an ihren Wurzeln und an ihrem lebenden kulturellen Erbe fest. Es kann also durchaus sein, daß Migranten ein winziges Stück Land zur Bewirtschaftung mit ihren traditionellen Kulturpflanzen wichtiger finden als ein schützendes Dach über dem Kopf zu haben. Sie werden erst dann wieder heimisch und können sich nur dort sicher fühlen, wo sie auch ihre mitgebrachten Pflanzen anbauen, nutzen und als integrale Bestandteile ihrer Kultur schrittweise und über Jahre hinweg den neuen Bedingungen anpassen dürfen.
Das gegenteilige, eher unerfreuliche Kapitel dieser Geschichte betrifft das Verbot des Anbaus bestimmter für die Ernährung, Kultur und Tradition unentbehrlicher Pflanzen. Nach der Entdeckung Amerikas gelang den Spaniern die Unterwerfung und Dezimierung der „indianischen“ Ureinwohner u.a. durch die gewaltsame Zerstörung von deren Feldern und damit ihren Lebensgrundlagen, also durch erzwungenen Hunger. Wer nun meint, die Menschheit sei inzwischen über eine derart brutale Vorgehensweise erhaben und darüber hinausgewachsen, irrt leider. Auf höchster politischer Ebene und auf Druck einer starken Agrar-Lobby wird gegenwärtig an Gesetzen gearbeitet, die jede Form von Subsistenzlandwirtschaft kriminalisieren, die den Austausch von Saatgut und Pflanzen zwischen Privatpersonen und selbst innerhalb von Vereinen komplett unterbinden sollen. Ist es nicht geradezu lächerlich, daß z.B. bestimmte im Alltag benötigte Produkte aus uralten, traditionell genutzten Kulturpflanzen wie Hanf und Mohn wegen der hierzulande noch immer geltenden strikten Anbauverbote hauptsächlich aus EU-Nachbarländern importiert werden müssen? Darunter sind Hanf- und Mohnsamen zur menschlichen Ernährung und als Futtermittel, aus diesen Pflanzen gewonnene Öle, Fasern für Stoffe und Seile, Werg, Mohnkapseln für die Floristik etc. – was für eine merkwürdige, nur Industrieprodukte wie Schnaps, Tabletten und Zigaretten legitimierende Drogenpolitik! Daß Hanf seit mindestens 5.000 Jahren angebaut wird, die wohl längsten und stabilsten Naturfasern liefert, den größten Biomassezuwachs aller Kulturpflanzen aufweist, Unkräuter massiv unterdrückt und als einer der nachhaltigsten Rohstoffe u.a. für die Papierherstellung dient, sei nur am Rande erwähnt. Wer weiß schon, daß die meisten Gutenberg-Bibeln einst auf Hanfpapier gedruckt wurden?
Domestikationssyndrome bei Pflanzen und Tieren im Zusammenhang mit der Migration genauer zu untersuchen, ist so spannend und ungeheuer bereichernd wie die Ethnobotanik schlechthin. Ausgesprochen schade, daß es weltweit kaum noch Forschungs-Einrichtungen, im deutschsprachigen Raum nicht einmal mehr neuere wissenschaftliche Bücher und Zeitschriften gibt, die einen Einstieg in diese faszinierende Thematik erleichtern.
Wie anders wäre unsere, die Menschheits-Geschichte ohne diesen tiefgreifenden Wandel und die Entwicklung der Landwirtschaft wohl verlaufen? Sind wir angesichts der gegenwärtigen Klimaveränderungen gut darauf vorbereitet, nach der Überhitzung der Atmosphäre „demnächst“ vielleicht wieder einmal eine mehrere tausend Jahre währende Kälteperiode zu überleben, eine weitere Eiszeit? Oder wird es vielleicht noch heißer, und heute dicht bewohnte Regionen veröden, werden unbewohnbar? Finden wir endlich zu mehr Respekt und Vorsicht im Umgang mit der Natur oder wollen wir ewige Zauberlehrlinge bleiben?
tg 2021-08-26