Im ersten Teil haben wir die die primären Kulturpflanzen und Unkräuter vorgestellt. Kurz erläutert werden jetzt die beiden unterschiedlichen Überlebensstrategien der Unkräuter, ehe wir zu den sekundären Arten kommen und definieren wollen, was wir unter dem Begriff „Unkräuter“ verstehen.
Während Kulturpflanzen vom Selektionsdruck unter Kulturbedingungen geprägt werden, haben sich manche Unkräuter auf unterschiedliche Weise diesem Einfluss entzogen: Kurze Entwicklungszeiten, hohe Reproduktionsraten, ein niedriger Wuchs und kleine Samen kennzeichnen Arten vom divergenten Typ wie beispielsweise die Vogel-Sternmiere (Stellaria media [L.] Vill.). Solche allgegenwärtigen Arten zu kultivieren, ist zwar schwierig, aber nicht unmöglich: In China wird die Vogelmiere als Gemüse angebaut. Unkrautarten vom konvergenten Entwicklungstyp folgen dem Selektionsdruck, der auf die Kulturpflanzen wirkt und nähern sich diesen an: Merkmale solcher Pflanzen sind u.a. der Verlust natürlicher Schutz- und Verbreitungsmechanismen, eine Angleichung der Samen- bzw. Fruchtgewichte an diejenigen der betreffenden Trägerkultur, eine Reduktion bitterer und giftiger Inhaltsstoffe, eine nahezu gleichzeitige Abreife aller Früchte sowie eine schnelle, gleichmäßige Keimung des Saatgutes.
Die Kornrade ist das Paradebeispiel für ein Unkraut mit Kulturpflanzenmerkmalen. Arten, die es geschafft haben, über das Stadium primärer Unkräuter hinweg zu echten Kulturpflanzen zu werden, bezeichnet man als sekundäre Kulturpflanzen. Der ursprünglich als Ungras in Weizenfeldern (Triticum spp.) auftretende Roggen (Secale spp.) wurde zunächst zusammen mit dem Weizen geerntet. Dabei erwies sich die Entstehung einer zähen Ährenspindel und die Angleichung der Korngewichte des Kultur-Roggens (Secale cereale L.) an den Weizen als vorteilhaft für Mensch und Pflanze. In trockenen, warmen Jahren wurde mehr Weizen, in feuchten und kühlen mehr Roggen geerntet. Diese Doppelstrategie sicherte den Menschen eine relative Ernährungssicherheit.
Zu sekundären Unkräutern können Kulturpflanzenarten werden, deren Anbau aufgegeben wird. Die Verwilderung von Kulturpflanzen kann ernste Probleme für die Landwirtschaft, aber auch für den Naturschutz schaffen. Besonders schwierig wird es bei Verwandtschafts-Komplexen, die miteinander kreuzbare Wild- und Kulturpflanzen, aber auch Unkräuter einschließen, wie das bei Flug- und Saathafer (Avena fatua L., A. sativa L.) der Fall ist. Mitunter können Unkräuter und Kulturpflanzen gleichzeitig aus einer Wildart hervorgehen. Aus der Wilden Gerste entstanden sowohl Kulturformen mit zäher Ährenspindel als auch Unkräuter mit typischen Domestikationsmerkmalen, deren Ähren bei der Abreife aber noch oder wieder zerfallen.
In der Kulturpflanzenforschung wird auch die Rolle der Unkräuter als wichtige Indikatoren zur Einschätzung der Situation in der Landwirtschaft untersucht. Ihre An- bzw. Abwesenheit, insbesondere aber ihre Variabilität und Merkmalsvielfalt innerhalb einer Population erlauben Rückschlüsse auf den Status der jeweiligen Trägerkultur, ob es sich dabei um eine Land- oder Zuchtsorte handelt bzw. ob vielleicht sogar eine Sortenmischung vorliegt.
In den hoch domestizierten Unkräutern finden wir ausgezeichnete Modelle zur Untersuchung von Prozessen, die zur Entstehung von Kulturpflanzen geführt haben und auch heute noch führen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn diese Domestikations-Prozesse nicht bewusst gesteuert werden. Die Kulturpflanzen-Mimikry einiger Unkräuter, die wir beispielsweise bei den hoch spezialisierten Formen der Kornrade vorfinden, sie geht verloren, sobald der Grund für die Anpassung ausgeschaltet wird und der strenge Selektionsdruck nicht mehr wirkt – wenn der gemeinsame Anbau des Unkrauts mit der Kulturpflanze erlischt.
Halmfrucht, Halmfrucht, Blattfrucht, die Übermacht des Getreides und der Getreide-Unkräuter, der Segetalarten, und ihrer Pflanzengesellschaften, der Secalietea, lässt auf den Äckern erst spät andere Unkrautarten aufkommen. Unkräuter, die sich vorrangig in gartenbaulichen Kulturen, in sogenannten Blatt- oder Hackfrüchten ansiedeln, werden nicht explizit gefördert.
Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass auch die Getreide zur mechanischen Unkrautbekämpfung früher gehackt worden sind. Neben den Segetalarten spielen also auch die Ruderalarten mit ihren Gesellschaften, den Chenopodietea als Unkräuter eine große Rolle. Das sind all jene Pflanzen, die bevorzugt auf vom Menschen massiv gestörten Standorten gedeihen. Diese Pflanzen stellen sich von allein an Straßen- und Wegrändern, auf Schutt und auf Müllplätzen ein, sie bevölkern Rohböden von Baustellen und Industriebrachen, sie wuchern in Pflasterfugen und auf Lagerflächen.
Zu den kurzlebigen Pionier-Arten gehört die Kleine Brenn-Nessel (Urtica urens L.), der Kompass-Lattich (Lactuca serriola L.) und die Weg-Malve (Malva neglecta Wallr.), darüber hinaus können etliche Gänsefuß- und Melde-Arten (Chenopodium spp., Atriplex spp.) Massenbestände mit einem großen Vorrat im Boden überdauernder Samen bilden. Ausdauernde Ruderalarten, Stauden und Gehölze keimen zwar auf den Äckern, sie gelangen aber durch die häufige Bodenbearbeitung meist nicht zur Samenreife. Wenn sie Rhizome ausbilden, können sie dennoch zu einer starken Verunkrautung der Flächen beitragen.
Die Häufigkeit des Auftretens der Unkräuter im Garten und die andere Zusammensetzung der Unkrautvegetation im Gemüsebau beruht auf den vom Getreidebau teils stark abweichenden Bestellterminen und den daraus resultierenden Keimtemperaturen des Bodens. Da typische Getreideunkräuter nur selten in die Gärten verschleppt werden, sind sie auch kaum in der Lage, eine Samenbank im Boden aufbauen, aus der heraus sie stabile Bestände entwickeln könnten.
Eigenständige, vom Getreideanbau nahezu völlig unabhängige Unkrautgesellschaften konnten sich demnach vor allem in der Gartenkultur, im Hopfen-, im Obst- und im Weinbau etablieren. Ausnahmen, wie besonders hübsche und ansehnliche Unkräuter, die gern als Zierpflanzen gesät werden – beispielsweise der Große Frauenspiegel, die Kuhnelke (Vaccaria hispanica [Mill.] Rauschert), die Saat-Wucherblume (Glebionis segetum [L.] Fourn.) und der Strahlen-Breitsame (Orlaya grandiflora [L.] Hoffm.) oder die wie die Feldsalate (Valerianella spp.) und der Nadelkerbel als Gemüse genutzt werden können, bestätigen die Regel.
In den folgenden Beiträgen werden wir nun weniger auf die pflanzensoziologischen Zusammenhänge eingehen, sondern vielmehr in loser Folge typische Acker- und Gartenunkräuter in Wort und Bild vorstellen, die uns im Alltag und in all jenen Fruchtfolgen begegnen, denen die Getreide in der Regel fehlen. Wer bis hierher gelesen, dabei tapfer durchgehalten hat und sich bei diesem Thema stärker engagieren möchte, ist hiermit gern eingeladen, eigene Unkraut-Bilder und Erfahrungen mit den betreffenden Arten einzusenden, wenn wir die Texte und Bilder in dieser Rubrik verwenden dürfen.
Zuvor wollen wir aber noch versuchen, eine Definition für den Begriff „Unkräuter“ zu finden und zugleich begründen, warum wir sehr wohl um den Wert dieser Pflanzen wissend, nicht auf alternative Bezeichnungen wie Acker-Begleitkräuter, Beikräuter und Acker-Wildpflanzen ausweichen.
Der Weichweizen (Triticum aestivum L. em. Fiori et Paol.) ist eine hoch domestizierte Kulturpflanze. Er wird gesät und bringt unter günstigen Umständen und guter Pflege bis zu 100 gleichzeitig reifende Körner je Pflanze als Ertrag. Das als Wildgemüse verwendbare Gewöhnliche Hirtentäschelkraut (Capsella bursa-pastoris [L.] Medik.) kann die 900-fache, der Weiße Gänsefuß, ein auch als Notnahrung, Gemüse und Heilpflanze genutztes Unkraut, sogar die 5.000-fache Menge hervorbringen.
Was also macht ein Kraut zum Unkraut?
Unkräuter erscheinen spontan; sie werden weder absichtlich gesät noch gepflanzt. Es können Wildpflanzen sein, aber auch Kulturpflanzen, beispielsweise Aufwuchs aus Ernteverlusten des Vorjahres. Das Hauptkriterium jedoch ist rein subjektiv, dass die betreffende Pflanze dort, wo sie wächst, unerwünscht ist, als lästig oder als störend empfunden wird.
Wer auch immer eine verunkrautete Fläche bewirtschaftet, rechnet mit einem wirtschaftlichen Schaden infolge Konkurrenz, höherem Krankheits-, und Schädlingsdruck, späterer Abreife oder Behinderung bzw. Verunreinigung der Ernte. Ästhetische Gründe können das Störungsempfinden ebenso auslösen wie das Auftreten einer großen Artenvielfalt bei Unkräutern vor allem bei Erholungsuchenden genau das Gegenteil bewirkt und bei Konsumenten als Indiz für eine ökologische Landbewirtschaftung und die Erzeugung gesunder Lebensmittel gilt, wenn sie unterhalb einer bestimmten Schadschwelle toleriert wird.
Die Unkrautkunde oder Herbologie hat sich zu einem eigenständigen naturwissenschaftlichen Fachgebiet entwickelt, dass sich mit Fragen der Unkrautbiologie, der Unkrautökologie, der Unkrautbekämpfung und mit den daraus resultierenden Einflüssen auf die Umwelt beschäftigt.
Die in den 1980er Jahren erstarkende Umweltbewegung forderte zunächst, den negativ belegten Begriff „Unkraut“ durch „Wildkraut“ zu ersetzen, doch als „Wildkräuter“ werden bereits wildwachsende essbare krautige Pflanzen bezeichnet. Im Ökolandbau wird gern das für eine differenziertere Betrachtung stehende, neutral klingende Wort „Beikräuter“ verwendet. „Acker-Begleitkräuter“ und „Acker-Wildpflanzen“ sind ebenfalls wohlmeinende Wortschöpfungen. Allerdings trifft keiner dieser Begriffe generell zu, da viele der Arten, wie wir ja eingangs gesehen haben, auch auf Standorten außerhalb der Äcker gedeihen. „Schadkräuter“ hingegen betont nur die beeinträchtigenden Aspekte. Ein Großteil der im Lebensraum Acker gedeihenden Arten ist jedoch derart konkurrenzschwach und inzwischen so selten geworden, dass sogar Schutz- und Erhaltungsmaßnahmen ergriffen werden müssen, um sie vor dem Aussterben zu bewahren. Vielleicht stecken gerade in diesen seltenen Arten die größten Potentiale für die Zukunft?
Unkräuter fördern die Bodengare, sie begrünen Böden schnell und schützen sie so vor Erosion, sie sind Nahrungsgrundlage und Lebensraum vieler Tierarten, sie schaffen ein das Pflanzenwachstum begünstigendes Mikroklima, sie düngen die Kulturpflanzenbestände, indem sie Pflanzen-Nährstoffe erschließen, speichern und verfügbar halten.
Einige Unkräuter sondern Substanzen ab, die Schädlinge von den Kulturpflanzen abwehren, manche sind als Wildgemüse und als Futterpflanzen verwendbar, andere dienen als Arzneipflanzen oder avancieren sogar zu Zierpflanzen. Unkräuter dienen bereits als Modellorganismen für die Wissenschaft und können perspektivisch zu neuartigen Kulturpflanzen entwickelt werden.
Die Vielzahl ihrer Eigenschaften und Eigenarten in Landwirtschaft und Gartenbau gezielt zu nutzen, das ist eine bisher kaum in Betracht gezogene, wenig erforschte Möglichkeit, die ökologische Landbewirtschaftung auf ein höheres naturschutzfachliches Niveau zu heben, ohne bei der Wortwahl stehen zu bleiben.
Wir Menschen waren in der Lage, eines der größten Artensterben in der Geschichte unseres Planeten zu bewirken. Vielleicht gelingt uns ja wenigstens auf den intensiv genutzten Flächen der Agrarlandschaften ein Umdenken und ein Gegensteuern, indem wir wertvolle und – nicht nur für uns – attraktive, schöne, interessante Unkrautarten gezielt dort fördern oder wieder ansiedeln, wo wir im Rahmen von Extensivierungsvorhaben Zeigerarten als Indikatoren für die Vielfalt, für eine gesundheitsbewusste Landbewirtschaftung, für den Schutz von Boden, Wasser und Luft einsetzen wollen.
Es gibt durchaus konkurrenzschwache Unkräuter, die als Bodendecker und Schnellkeimer das Ökosystem Acker aufwerten können. Sie müssen aber auf den Flächen neu eingebracht und so etabliert werden, dass problematische Arten weiterhin unterdrückt und die Kulturpflanzen möglichst nicht behindert werden. Hier können wir nur mit einzelnen Arten beginnen, deren Wirkung in Abhängigkeit von der Häufigkeit und vom Aussaatzeitpunkt sorgfältig beobachten und uns dann Schritt für Schritt an mehr Vielfalt herantasten, auch im Gemüsebau.
Die Zukunft wird vermutlich in Mischkulturen und weiten Fruchtfolgen liegen. Keine Zwei-, Drei- oder Vierfelderwirtschaften, sondern vielgliedrige Felder in überschaubarer Strukturierung wird es dann geben, in denen auch die Bodenorganismen nicht fehlen. Die Insekten werden sich einfinden und all die anderen Tierarten hier wieder ihr Auskommen finden, die von diesen leben. Wahrscheinlich werden dann mehr Menschen und weniger Maschinen regelmäßig auf den Äckern arbeiten – aber was wäre daran so schlimm?
tg 2020-07-16