Wer das Glück hat, nach dem Feierabend oder an den Wochenenden ein wenig im Garten zu verweilen, kann sich im Freien hervorragend von der Stubenhockerei des Büroalltags erholen und gleichzeitig nach Lust und Laune schöpferisch tätig sein. Hat man erst einmal das Rentenalter erreicht, wird so ein Garten vielleicht sogar zu einer neuen, erfüllenden Lebensaufgabe, zu einer regelrechten Passion, an der Partner, Nachbarn, Freunde und Bekannte, ja ganze Familien gern partizipieren dürfen: Anbauhinweise und Tipps austauschen, sich gegenseitig unterstützen, miteinander feiern. Was nicht zur Selbstversorgung benötigt wird, erfreut als Geschenk, beispielsweise überzählige Jungpflanzen und Ableger, selbst geerntetes Saatgut, Obst und Gemüse, ein bunter Blumenstrauß.
Von jenseits des Gartenzaunes aus betrachtet, sehen die Spaziergänger jedem einzelnen dieser Gärten durchaus an, wieviel Zeit die jeweiligen Nutzer wofür investiert haben und für welche Pflanzen, Tiere oder gestalterischen Elemente sie sich besonders interessieren. Wer Gärten zu lesen vermag, der erkennt recht bald, wie nachhaltig das Handeln der jeweiligen menschlichen Individuen ist und ob es ihnen wohl gelingen mag, bestimmte unerwünschte Spezies wenigstens zeitweise aus ihren Refugien zu verbannen – vor allem solche aus den unteren, mit Unkräutern und Schädlingen gut angefüllten „Schubladen“.
Auf engstem Raum besonders abwechslungsreich sind die heiß begehrten Parzellen der städtischen Kleingartenanlagen: Friedliche Koexistenz auf engstem Raum, hier wird sie praktiziert, hier ist sie die Regel, zumindest im angestrebten Ideal. Es gibt kaum ein Thema, über das man hier nicht miteinander ins Gespräch käme.
Unabhängig von ihrer Größe heben sich Gärten von allen anderen landwirtschaftlich-gärtnerischen Flächen wegen ihrer im Schnitt viel höheren Biodiversität ab. Keine aus Saatgrasland hervorgegangene Wiese oder Weide, keine Obstplantage, schon gar kein Acker kann es diesbezüglich mit ihnen aufnehmen. Nur bei naturnah bewirtschafteten Wiesen kommt man auf vergleichbar hohe Artenzahlen und in den weitläufigen, gut gepflegten alten Streuobstbeständen zusätzlich auf eine beachtliche Sortenvielfalt.
Das erste zarte Gemüse aus dem Garten, die duftenden Küchenkräuter, die knospenden Rosen, der kräftige Laubaustrieb, das frische Grün der blühenden Büsche und Bäume – was war das für ein herrliches, dank der anhaltenden Kälte und der ergiebigen Niederschläge außerdem ungewöhnlich langes Frühjahr! Nur die Blattläuse und die Heerscharen sie umsorgender Ameisen trüben die Stimmung etwas. Die eifrigen Blattlausvertilger, Marienkäfer, Flor- und Schwebfliegenlarven lassen sich in diesem Jahr mehr Zeit, als wir Geduld aufbringen können. Die Nacktschnecken werden, kaum dass es etwas geregnet hat, schon wieder häufiger und dreister. Zum Glück gibt es gegen all diese Plagen wirksame Mittel, die man gießen, spritzen, stäuben oder in Fallen verstecken kann, damit die Nützlinge nicht darunter leiden.
Haben wir bei unserem zielgerichteten Handeln alles gut bedacht? Oft genug nehmen wir das Leiden der Lebewesen in unserem Umfeld, ihr Sterben einfach nicht wahr oder sogar billigend in Kauf. Je weiter entfernt von uns sie im Stammbaum verortet sind, je weniger offenkundig ihr Nutzen für uns ist und je kleiner der Kuschelfaktor ausfällt, desto überschaubarer unsere Empathie, unsere Fähigkeit, unser Bestreben des Ein- und Mitfühlens.
Der durch Pestizide verursachte Nahrungsmangel oder gar die Vergiftung der frisch geschlüpften Jungvögel bleibt uns ebenso verborgen wie die Trauer der Eltern um ihren Nachwuchs. Die Hummelkönigin verendet versteckt und unentdeckt mehrere Tage, nachdem sie eine gegen Blattläuse gerichtete Spritzung abbekommen hat. Mit ihr geht auch der ganze, erst kürzlich gegründete Staat zugrunde. Die Ameisen und Blattläuse, all die Mücken und Fliegen, die Ratten und Mäuse hingegen sollten ja gerade an dem Kontaktgift bzw. an den ausgelegten Ködern sterben. Den „Erfolg“ kontrollieren wir sogfältig und wiederholen die „Behandlung“ bei „Bedarf“ regelmäßig. Viel zu spät haben wir Mitleid mit dem Igel, der schon vor mehreren Wochen im Maschendrahtzaun hängen geblieben sein muss. Sicher hätten wir ihm zu helfen versucht.
Es ist einfach so, dass viele in unserer Umwelt gern gesehene Tiere gartenzaun- und straßenüberschreitende Lebensräume bevölkern. Sie bewohnen in harten Kämpfen eroberte und tagtäglich bzw. allnächtlich verteidigte Reviere, deren Grenzen sich gemäß den aktuellen Kräfteverhältnissen permanent verschieben. Verluste an Individuen werden in attraktiven Lebensräumen umgehend ausgeglichen. Wir kennen so etwas nur zu gut aus unseren eigenen Alltags-Erfahrungen: Parkplätze, vakante Jobs und erschwingliche Wohnungen bleiben in einer attraktiven Umgebung nicht lange frei. Demgegenüber führen Verluste an Lebensräumen zum Abwandern oder Aussterben der sie bewohnenden Arten.
Wenn Krötenzäune und kilometerlange Betonschutzwände der Autobahnen zu tödlichen Fallen für Tiere werden, die sich nur auf dem Boden laufend oder kriechend fortbewegen können, sind Vögel und Fluginsekten dann nicht klar im Vorteil?
Doch, ja, das sind sie – solange sie schnell genug und in Höhen unterwegs sind, in denen sie nicht die Frontscheiben der Hochgeschwindigkeitszüge, Fahrzeugkolonnen und Flugzeuge queren und nicht von deren Strömungswirbeln erfasst werden. Weitere, die Überlebenschancen erhöhende Fähigkeiten sind Beobachtungsgabe, Lernfähigkeit und Vorsicht, wie wir sie beispielsweise bei den Krähen gut beobachten können. Angesichts ihrer unbeweglich an den Wegrändern der Weingärten hockenden Artgenossen meiden sie den reich gedeckten Tisch. Weil jene größere Mengen vergifteter Maikäfer gefressen haben, ist ihnen furchtbar übel. Im Unterschied zu diesen intelligenten Vögeln glauben wir Menschen nur zu gern den Aussagen auf Beipackzetteln, das alljährlich von Agrarflugzeugen und Hubschraubern ausgebrachte übelriechende Mittel wirke ganz speziell und nur gegen die Maikäferplage. Unbeirrt setzen wir unsere Wanderung durch die Weinberge fort, gewöhnen uns an den merkwürdigen Geruch, vergessen ihn über kurz oder lang und freuen uns auf einen edlen Tropfen am Abend.
Ganz zu schweigen haben wir vom Bodenleben als Ganzes, das sich trotz seiner summarisch gewaltigen Biomasse wegen der winzigen Ausmaße der einzelnen Individuen fast aller im Boden lebender Arten der Betrachtung mit dem bloßen Auge weitgehend entzieht. In seiner Vielgestaltigkeit und mit seinen unvorstellbar hohen Zahlen miteinander kooperierender Einzelwesen wandelt sich seine Komplexität im Jahresverlauf den konkreten Bedingungen und den Eingriffen folgend: Das Mulchen bringt Nahrung, das Umgraben Luft in den Boden, das Hacken erschwert die Austrocknung tieferer Schichten und reduziert die Unkräuter. Austrieb und Wachstum der Pflanzen zehren, der Laubfall düngt und bedeckt den Boden.
Unbewachsene Flächen sind eine Provokation für die Natur, die sofort Pionierarten keimen lässt, die sehr bald in Konkurrenz mit den Kulturpflanzen stehen, die wir als Gärtner und Landwirte dort anbauen. Schon die Auswahl der Pflanzenarten übt einen erheblichen Einfluss auf die Zusammensetzung der Mikroflora und -fauna aus, auf die Ressourcen wie Art und Menge der Nährstoffe, die Verfügbarkeit von Licht und Wasser, die anderen Organismen bleiben. Während mechanische und thermische Maßnahmen zur Lenkung der Bestandsentwicklung noch relativ schnell kompensiert werden, verändert der Eintrag chemischer Substanzen, darunter Kalk, Kunstdünger und Pestizide, das Milieu gravierend und nachhaltig. Einige Mittel wirken generell, andere selektiv auf bestimmte Lebewesen. Manche Substanzen können sich im Boden und in bestimmten Teilen von Tieren und Pflanzen anreichern, andere werden abgebaut oder in tiefere Bodenschichten ausgewaschen. Nicht von ungefähr spricht man explizit von Anti-Biotika, wenn es um die Bekämpfung unerwünschter Keime geht. Wie die in Landwirtschaft und Gartenbau regelmäßig eingesetzten unterschiedlichen Mittel miteinander reagieren und wirken, ist weitgehend unerforscht.
Beeindruckenden Dokumentationen für das Fernsehen ist es zu danken, dass wir uns wenigstens gelegentlich an die zahllosen Produkte aus plastischen und elastischen Kunststoffen erinnern, die jahrzehntelang zwar mechanisch zerkleinert, aber chemisch kaum verändert in den Bächen, Flüssen und Weltmeeren treiben. In den Weiten der Ozeane bilden sie ausgedehnte Teppiche und riesige, im Freiwasser schwebende pelagische Wolken, die die Funktionalität des gesamten Ökosystems und die Existenz vieler dort lebender Arten gefährden.
Nur ein Bruchteil dieser Abfälle landet an den Spülsäumen und zum Verdruss der Touristen auch an den während der Saison täglich gereinigten Badestränden. Sie finden sich aber auch überall im Binnenland, so z.B. in den Nestern, ja sogar in den Mägen der Singvögel und vieler anderer Tiere. Die Verwendung derartiger Kunststoffe zu vermeiden, ihre Herstellung vielleicht sogar zu verbieten, reduziert nicht die in der Umwelt bereits vorhandene Schadstofflast, sondern nur deren Zuwachs.
Vieles von dem, was täglich im Haushalt als Müll anfällt, ist für die Natur schwer bekömmlich, birgt Verletzungsgefahren, wirkt schädigend und ist auch für uns Menschen gefährlich oder sogar giftig: Lacke, Farben, Lösungs- und Waschmittel, Feinstaub, Rauchgase, Bau- und Dämmstoffe, Haushalts-Chemikalien und Konservierungsmittel, Mineralöle und Kraftstoffe, medizinische, gastronomische und Hygiene-Einweg-Produkte, Verpackungen, Kaugummis, Kronverschlüsse und Kippen, Glas, Keramikbruch- und Kleidungsstücke. Was gelangt nicht alles trotz des immer weiter verbesserten Recyclings, moderner Katalysatoren, Kollektoren und Filtereinrichtungen direkt oder auf Umwegen wieder in die Natur, in den Boden, in das Wasser und in die Luft?
Nicht-stoffliche Einflüsse entfalten ebenfalls unbeabsichtigte Wirkungen: Strahlung bis hin zur beleuchteten Hausnummer, elektrische und magnetische Spannungsfelder, selbst kleinste Temperaturveränderungen, temporäre Geräusche und dauerhafter Lärm zum Beispiel, sogar bestimmte menschliche Verhaltensweisen, neue Techniken und Verfahren, jeder dieser Eingriffe in die natürlichen Abläufe beeinflusst das ökologische Gleichgewicht.
Ist es nicht erstaunlich, wieviel davon die Natur abzupuffern, zu kompensieren vermag, welch unerschöpfliches Anpassungspotential in den Tieren und Pflanzen schlummert? Zweifelsohne gelingt es vielen von ihnen, nicht nur dem bestehenden natürlichen Selektionsdruck standzuhalten, sondern auch den vom Menschen geschaffenen Bedrohungen ihrer Existenz auszuweichen oder sie sogar für sich nutzbar zu machen.
Die Vögel zwitschern wie in jedem Frühling und haben längst ihre Nester in den zuvor gereinigten Kästen oder in den Hecken gebaut. Die Eltern füttern bereits, und das unentwegte Piepsen der hungrigen Jungen ertönt von früh bis spät. Tauben gibt es auch, die nur zu gern über die frisch gesetzten Kohlpflänzchen herfallen und sie zerpicken, wenn wir noch schlafen oder gerade nicht hinschauen. Der melodische Vortrag der Amseln tröstet uns etwas darüber hinweg, dass diese im Siedlungsraum allgegenwärtigen Sänger genau wie ihre Weibchen auf der Suche nach Nahrung und Futter für ihre Jungen vorzugsweise unsere frisch bestellten Beete zerscharren. Dabei lassen sie sich kaum stören und nur kurzfristig vertreiben. Andererseits freuen wir uns natürlich, wenn die Vögel Drahtwürmer und Engerlinge dezimieren, auch wenn sie zusammen mit den gleich truppweise einfliegenden Staren jetzt schon mal nach den eben erst verblühten Kirschen schauen. Wir werden in diesem Jahr die Schutz-Netze rechtzeitig über die Beete, Büsche, Bäume und Teiche spannen, denn auch Marder, Reiher und Waschbären haben Ambitionen, die mit unseren Absichten schwer in Einklang zu bringen sind.
Schmetterlinge, Wespen, Hummeln und Hornissen, Bilche und Nachtigallen, Mäuse und Zauneidechsen fühlen sich in unseren Gärten offenbar wohler und sind hier daher teils häufiger anzutreffen als in siedlungsfernen Lebensräumen, in denen sie doch viel ungestörter leben könnten. Warum nur?
Vielleicht ist es gerade die Vielfalt der Ressourcen und Strukturen in den Gärten, das nie gleichzeitige und selten miteinander abgestimmte Handeln von uns Menschen, die Möglichkeit, uns ohne großen Aufwand zeitweilig auszuweichen, das eng an unsere menschliche Kultur gebundenen Arten ein Überleben erleichtert. Der Gradient vom Umland über die Gärten hin zu den Häuserschluchten der Megastädte ermöglicht ihnen über Generationen hinweg die Gewöhnung und eine Anpassung.
Kulturflüchter, die in der Nähe des Menschen kein Auskommen finden, werden hingegen immer seltener. Ihnen helfen wir am besten, wenn wir ihre Rückzugsräume respektieren und möglichst nicht betreten oder gar befahren, Schutzgebiete beispielsweise. Gut beraten sind auch Gärtner, die Unkräuter, Heckenschnitt und Küchenabfälle im eigenen Garten kompostieren, zum Bau von Hochbeeten oder zum Mulchen verwenden. Keinesfalls jedoch sollten sie in naheliegenden Wäldern entsorgt werden, denn die an biologischer Vielfalt besonders reichen Naturstandorte sind oft ausgesprochen nährstoffarm, während viele Gemüsepflanzen als ausgesprochene Starkzehrer einen hohen Nährstoffbedarf haben.
- tg 2021-06-01 -