„Bringst Du bitte mal den Müll raus?“ – „Ja, gleich.“ – „Und nimmst Du dann auch die Abfälle für die Biotonne mit? Ach, bei der Gelegenheit: Hast Du gestern eigentlich noch geschafft, Dein Zimmer aufzuräumen und ein bisschen geputzt? – Das wäre schön ...“
Dialoge dieser Art, voller unerfüllter Hoffnungen, sind sicher nicht an die Pubertät gebunden und kehren wohl nicht nur bei uns immer wieder. Sie beeinflussen die häusliche Stimmung, verdrängen andere Gedanken und Gesprächsthemen effektiv. Argumente dafür und dagegen werden ausgetauscht, Bitten um Aufschub und Hilfe routiniert in Endlosschleifen abgespult, ohne noch viel darüber nachdenken zu müssen und inzwischen ganz ohne eskalierendes Commitment. Durch dieses Recycling der besonderen Art sind neue Gewohnheiten entstanden, die heute fast schon als Traditionen verankert, als manifeste Bestandteile des familiären Alltags nahezu emotionsfrei ablaufen.
Trotzdem: Unser persönliches Umfeld, der Schreibtisch, die Wohnung, der Garten sollen vorzeigbar, sauber und aufgeräumt, der Kopf frei sein. So erziehen wir auch unsere Kinder, versuchen es wenigstens. Unser ganzes Outfit, sogar das Auto ist eine Facette jenes omnipräsenten Bildes, das wir von uns zeichnen. Was für ein Aufwand!
Doch so sind wir eben, und so wollen wir auf unsere Mitmenschen wirken, möglichst nur so von ihnen gesehen und wahrgenommen werden: Frisch gewaschen, die Kleidung gebügelt, die Schuhe geputzt, das Haar betont individuell frisiert, so fühlen wir uns sicher und sind bereit, kraftvoll durchzustarten. Andere mögen in ihrem Alltag lässiger und als weniger durchgestylte Produkte erscheinen, doch Hauptsache, auch sie funktionieren in ihren jeweiligen Hamsterrädern.
Ja, offenbar geht es den beiden, sich grundverschieden gebenden Typen hauptsächlich darum. Doch unsere individualisierte Gesellschaft hält auch jede Menge anderer Möglichkeiten bereit, sich selbstbewusst zu verwirklichen und dabei wohlzufühlen. Wer den Rahmen dafür nicht aktiv festzusetzen vermag und nicht gelernt hat, sich einzuschränken, wird Kompromisse eingehen müssen und Kompensationsmöglichkeiten finden, andere Lebensentwürfe und Wertvorstellungen entwickeln.
Wie auch immer, uns allen ist das Bedürfnis nach abgesicherter gesellschaftlicher Teilhabe eigen, gefolgt von dem Wunsch nach finanzieller Anerkennung für die geleistete Arbeit und gepaart mit dem festen Willen, aus einer Vielzahl attraktiver Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zu wählen: Aktiv oder passiv zu sein bei Sport und Spiel, zu reisen, sich bedienen zu lassen, zu chillen und zu genießen. Ob im Kino, am Strand oder im Restaurant – Hinterlassenschaften früherer Nutzer stören zwar gewaltig, hindern uns aber kaum daran, den Service des Auf- und Abräumens als Selbstverständlichkeit auch überall dort in Anspruch zu nehmen, wo er nicht angeboten wird, gar nicht angeboten werden kann.
Spaß haben oder Frust abbauen können wir auch, indem wir je nach Geldbeutel und ganz nach Herzenslust konsumieren, was immer wir zu brauchen meinen – oder was uns gerade angeboten wird. Dafür leben, dafür arbeiten wir Verbraucherinnen und Verbraucher liebend gern und unglaublich hart.
Wo gehobelt wird, fallen Späne, bei allem was wir Menschen tun. Wir stellen höchste Ansprüche an die Qualität dessen, was wir erschaffen – oder wurden dazu angehalten, erzogen. Vieles haben wir der Natur abgeschaut und sogar gelernt, es für uns besser zu machen. Einige der von uns ersonnenen Materialien, darunter Farben, Glas und Keramik, Kunststoffe, Lacke, Legierungen, Freone etc. sind stabiler und dauerhafter als ihre in der Natur vorkommenden Pendants.
Nur das Sammeln, Entsorgen und Wiederverwerten, das Recycling erfolgt eben leider weniger vollständig als wünschenswert. Nicht einmal für die sichere End-Lagerung gefährlicher Produktionsabfälle haben wir bisher dauerhafte Lösungen gefunden. Doch wir arbeiten auch daran und haben so seit Anbeginn unserer Kulturgeschichte u.a. immer wieder Stätten für die Forschung geschaffen. Sind nicht die Zeugnisse menschlichen Wirkens in steinzeitlich genutzten Höhlen, sind nicht verfüllte Burggräben, historische Halden, stillgelegte Stollen, inzwischen komplett überwachsene Müll- und Schuttberge Lehrbeispiele unseres Umweltbewusstseins und Umgangs mit Ressourcen? Vielleicht zeigt sich der grundsätzliche Unterschied zu unserer Kultur, beweist sich die Perfektion der belebten Natur ja gerade in ihrer Vergänglichkeit und in der rückstandslosen Wieder-Verwertung all ihrer vielfältigen Erscheinungen, in dem technisch unerreichten Wirkungsgrad der miteinander verflochtenen Stoff- und Energiekreisläufe?
Für kreativer und zielgenauer als die Natur halten wir Menschen uns auch in der Technologie, beim Auffinden konstruktiver Lösungen sowie bei der Anwendung ausgefeilter Techniken und verbesserter Verfahren. Von der Handhabung des Feuers und der Anpassung wildlebender Tiere und Pflanzen via Domestikation an unsere Bedürfnisse geht es dabei über die landwirtschaftliche Produktion bis hin zur industriellen Verarbeitung und Zubereitung unserer Nahrung, zur Fertigung der Kleidung und nahezu aller anderen Handelsgüter. Fortschritt, so haben wir gelernt, bedarf der Spezialisierung, der Kooperation und wenn nicht der Konkurrenz, dann mindestens des Wettbewerbs.
Kein Mensch beherrscht sämtliche Teildisziplinen einer x-beliebigen Wissenschaft. Niemand sieht die vielen Zwänge, erkennt und versteht all die fördernden und hemmenden Einflüsse auf die komplexen Wechselwirkungen, die einer Umsetzung von Erkenntnissen durch die Politik vorausgehen. Da es in der Gesellschaft aber ebenso wie in der Natur immer mehrere Lösungsansätze und unterschiedliche Wege gibt, wäre es da nicht angezeigt, die gesamte Bandbreite der Optionen beizubehalten und sie alle weiterzuentwickeln, statt sich auf wenige, von der Ökonomie favorisierte Herangehensweisen zu beschränken? Im Grundsatz sind sie ähnlich preiswert zu haben. Do sie warten mit zunächst gering geschätzten, uns dann später aber massiv auf die Füße fallenden Nachteilen auf. Wissen wir denn nie genug, um gleich richtig und wirklich nachhaltig handeln zu können?
Konkurrenz und Wettbewerb, innerartliche Kämpfe und Rivalitäten im Pflanzen- und im Tierreich haben noch nie zum Aussterben der betreffenden Spezies geführt. Ein von strengen Regeln bestimmtes ritualisiertes Kräftemessen darf in der Evolution des tierischen Verhaltens wohl als höchste, weil ressourcenschonendste und für alle Beteiligten, aber auch für Außenstehende ungefährlichste Entwicklungsstufe gelten. Demgegenüber haben militärische Auseinandersetzungen zwischen Menschen nach zahllosen lokalen und regionalen, nach einem kalten und zwei Weltkriegen spätestens im 20. Jahrhundert ein Zerstörungspotential erreicht, das trotz seines weiteren, ungebremsten Wachstums weder abzuschrecken vermag noch einseitige Siege zulässt. Weil es alle Lebensgrundlagen dauerhaft infrage stellt und daher kaum mehr Akzeptanz findet, erzwingt es ein grundsätzliches Umdenken.
Kein Wunder also, dass neben der Entwicklung völlig neuer Waffengattungen die Anstrengungen zur Nutzung von Künstlicher Intelligenz von allen Industrienationen gerade stark forciert werden. Filmisch ist die Verschmelzung von Mensch und Maschine durch Schnittstellen zwischen Hirn und Computer längst realisiert. Finale Entscheidungen werden dann nicht mehr von denkenden und fühlenden Menschen getroffen, sondern von Algorithmen, genau genommen von einem einzigen fehlerhaften Programm. Während unbeeindruckt von den Gefahren und von den Lehren der Geschichte weiter daran gearbeitet wird, sind Kampfmittelräumdienste noch immer gut mit der Beseitigung und mit dem Recycling gefährlicher Rudimente der angeblichen technischen Souveränität von Staaten und Systemen beschäftigt, die bereits vor 100 Jahren mit Pauken und Trompeten untergegangenen sind. Denkmale erinnern an die Toten der Kriege, an die als Helden Gefallenen, während die Verletzungen und die Verwüstung der Landschaft mit den Jahren zwar vor unseren Augen, meist aber ohne unser Zutun vernarben.
Schlimmer noch ist, dass wir nicht aufhören können oder wollen, mit Pestiziden aller Art, mit giftigen oder klimaschädlichen Gasen, Stäuben und Aerosolen, mit gefährlichen Flüssigkeiten, toxischen Feststoffen, belasteten Schlämmen und mutagener Strahlung einen Krieg gegen unsere Umwelt zu führen. Zu den unkalkulierbaren Kollateralschäden dürften auch heftige lokale Unwetter, Dürren und neue Zivilisationskrankheiten gehören. Warum haben wir keinerlei Respekt mehr vor der Natur und sind trotz unserer geschulten Intelligenz offenbar nicht zu prinzipiellen Verhaltensänderungen in der Lage? Weshalb gelingt uns kein Ausbruch aus dem Zyklus spätpubertärer Angst und Gewalt? Wieso fällt es uns so schwer, verminte Trümmerfelder gründlich aufzuräumen und den Müll der Geschichte ein für alle Male so zu entsorgen, dass sie sich nicht wiederholen kann?
Der innovationsfreudigen Bionik ist es immerhin gelungen, altbekannte Phänomene aus der belebten Natur in moderne Technik zu „übersetzen“ und dann meist zivil zu nutzen. Durch Mikrostrukturen Wasser und Schmutz abweisende Oberflächen verdanken wir dem Lotus-Effekt, Sollbruchstellen bei Konstruktionen den Schachtelhalmen, Klettverschlüsse den Früchten der gleichnamigen Pflanze, um nur einige Beispiele zu nennen. Alterung und Zerfall gibt es hier wie dort, doch warum schließt sich nur in der Natur, nur nach dem Tode lebendiger Wesen der Kreis des Recyclings vollends, ganz ohne unser Zutun?
Verpackungen, fehlerhafte Ware, ein irreparabler Defekt, Alterung und Verderb, Beschädigungen und Gebrauchsspuren, Materialermüdung, unbrauchbare Restbestände, Baumaßnahmen, Platz- oder Renovierungsbedarf und schließlich die Verfügbarkeit neuer, qualitativ besserer und leistungsstärkerer Produkte oder schlicht die Werbung für Angebote einer sich ändernden Mode – es gibt unendlich viele Gründe, sich von Produkten zu trennen und sie zu „entsorgen“. Hinzu kommen Schadstoffe im Garten und anderswo, die wir absichtlich ausbringen und dann vergessen, nicht einmal wissen wollen, was mit ihnen in der Umwelt passiert.
Die Geschichte der Sammlung, Abfuhr und Entsorgung übelriechender Haushalts- und Gewerbeabfällen reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück. Sauberkeit und Hygiene spielten in der Zivilisation zuvor offenbar kaum eine Rolle. Die systematische Abfalltrennung begann sogar erst in den 1970er Jahren mit der Aufstellung von Behältern für Altglas. Heute wird Glasbruch bereits nach Farben sortiert.
Ab ca. 1980 wurden Container zur Sammlung von Altpapier aufgestellt; ihnen folgten solche für Verpackungsmaterialien, der „Grüne Punkt“ und schließlich Behälter für verderbliche, biologisch abbaubare und kompostierbare Abfälle, die „Bio-Tonnen“. Zwischenzeitlich gab es sogar Versuche, als Tierfutter geeignete Nahrungsreste wiederzuverwerten. Altholz, Bauschutt, Chemikalien, Grünschnitt, elektrische und elektronische Geräte, Leuchtmittel, Schrott, Sperrmüll etc. nehmen Recycling-Höfe zur ordnungsgemäßen Entsorgung bzw. zur thermischen Verwertung entgegen. Batterien und Umverpackungen dürfen kostenlos in den Verkaufsstellen des Einzelhandels abgegeben werden. Für Büchsen, Kunststoff- und Glas-Flaschen wurde ein Pfandsystem eingeführt. Für Kleidung und Haushaltswaren gibt es Second-Hand-Shops, für teure Geräte und Maschinen Ausleihstationen. Diese konsequente Art der Reduktion und Vermeidung von Müll einschließlich des Recyclings stellt eine besondere kulturelle Errungenschaft der Menschheit dar. In der Natur gibt es nur selten Bedarf daran und dementsprechend auch nur wenige, hoch spezialisierte Vorbilder.
Fortwährendes Up- und Downcycling, möglichst vollständiges Recycling von Ressourcen ist neben der Umverteilung und Verlagerung eben eines der Grundprinzipien der Natur, von denen sie nur selten abweicht. Ausnahmen davon, „Fehler im System“, haben wir Menschen schnell gelernt, zu unserem Vorteil auszunutzen: Kohle, Öl und Gas als Energieträger, Minerale und Erze, Torf, Sand und Steine, unendlich vieles mehr. Wie könnten wir heute leben, wie könnten unsere modernen Industrien produzieren, wenn es all die unerschöpflich erscheinenden Vorräte nicht gäbe, in denen Ressourcen als Bodenschätze in Lagerstätten angereichert sind und nur darauf zu warten scheinen, von uns gehoben und ausgebeutet zu werden?
Nehmen wir nur das Wasser, das als sehr ungleich verteiltes Gut aus hoch gelegenen Bächen in Flüsse strömt, die in Seen oder direkt ins Meer münden. Es fließt immer nur abwärts und wählt dabei den geringsten Widerstand. Während seines gesamten Weges durchdringt und sättigt es nicht nur den Boden, sondern auch die Luft. Durch Sonnenenergie und Wind steigt es in höhere, kühle Luftschichten auf, wo es zu Wolken kondensiert. Dichte Nebel aus winzigen Tröpfchen spenden Schatten und Kühle, bis sie zu größeren Kristallen oder Tropfen vereint erneut als Niederschläge zur Erde zurückkehren. Seit Jahrmillionen bestimmt dieses beispiellos effektive Recycling das Wetter, das Klima und ermöglicht durch seine Dynamik und stabile Verteilung erst die Diversität des Lebens auf dieser Erde. Hüten wir Zauberlehrlinge uns davor, bei der Nutzung des Wassers und seiner Energie in diesen Zyklus einzugreifen, seine Kräfte zu unterschätzen, sie eindämmen zu wollen, oder gar sie herauszufordern!
tg 2021-07-21