Wie lange liegt dein letzter Waldspaziergang schon zurück? War das noch in der Sommerhitze, zur vergeblichen Pilzsuche im langen, schönen, leider viel zu trockenen Herbst oder doch erst kürzlich, nach dem letzten Regen und seit die nicht enden wollende Dürreperiode hinter uns liegt? Nur der feinwürzige, typische Duft nach frischer Erde und nach Pilzen, der hat sich noch nicht eingestellt.
Vielleicht bist du ja sogar öfter im Wald unterwegs, weil du den Wechsel der Jahreszeiten hier bewusster wahrnehmen, aber auch freier und tiefer atmen kannst als sonst irgendwo? Dann ist dir sicher aufgefallen, dass die vergangenen, viel zu trockenen Jahre unseren Wäldern und Forsten sehr zugesetzt haben. Nicht standortangepassten Bäumen und Sträuchern sieht man ihre schwere Schädigung an. Etliche sind bereits abgestorben. Vor allem die Rotbuche reagiert empfindlich auf hohe Temperaturen und auf Trockenheit. Die geschwächten Sandbirken werden nun besonders leicht vom Birkenporling befallen und brechen in halber Stammhöhe ab. Zahllose Kiefern stehen da, ohne Nadeln, ohne Borke. Nur Eichen, Spitz- und Feldahorne zeigen sich von der Wasserknappheit kaum beeindruckt und leiden außerdem weniger unter Windbruch.
Blickt man in die schütteren Kronen noch lebender Birken oder Kiefern, kann man die Wolken ziehen sehen. Es fällt heute mehr Licht auf den Boden als früher. Wo einst nur Laub- und Nadelstreu lag, grünen heute selbst unter hohen Kiefern Sträucher, stehen Gräser, blühen Kräuter und keimen Eichen. Die spärlichen Niederschläge gelangen wohl nicht mehr bis zu den Wurzeln der Bäume.
Obwohl es unterm Laub- bzw. Nadeldach im Sommer schattig war, wollte sich in der Hitze kein rechter Erholungseffekt einstellen. In stadtnahen Wäldern ist jetzt nur zu oft die Säge zu hören. Teppiche aus Efeu und Immergrün überziehen den Boden. Manschetten aus Efeu bekleiden die noch lebenden Bäume. Schleier aus Efeu, Hopfen und Wildem Wein überziehen alle Gehölze. Sie nehmen ihnen das Licht, machen ihnen das Wasser und die Nährstoffe streitig. Dazwischen liegen von Efeu ummantelte Stammstücke. Weitere Gehölze unterwandern die Baumkronen. Zumeist sind es Gartenflüchtlinge wie Berberitze, Eibe, Felsenbirne, Flieder, Lorbeerkirsche, Mahonie, Schneebeere und Zwergmispel. Zusammen mit Stickstoffzeigern, darunter Große Brenn-Nessel, Quecke und Zaun-Giersch, verdrängen sie die ehemals auf armen Böden vorherrschenden Arten der Krautschicht: Blaubeere, Drahtschmiele und Heidekraut sind selten geworden. Flechten und Moose gehen zurück.
Übermannshohe Brombeergebüsche und rasch wachsende fremdländische Gehölze wandern ein, darunter Robinie, Roteiche und Späte Traubenkirsche, Blauglocken-, Götter- und Zürgelbaum. Sie füllen die klaffenden Lücken im Baumbestand und bescheren den ehemals reinen Kiefernforsten mit einer vielfältigen Kraut- und einer teils immergrünen Strauchschicht einen artenreichen Unterwuchs. Sie sind mancherorts fast undurchdringliche Dickichte geworden. Erodiert die stadtnahe Vegetation stärker als die ländliche? Wird dieser Wandel, wird der schleichende Verlust heimischer Arten auf das Umland übergreifen? Können wir diese Prozesse steuern, vielleicht stoppen, überhaupt irgendwie beeinflussen?
In den Fahrspuren der schweren Forstfahrzeuge sammelt sich das Regenwasser. Es steht auch noch tagelang in großen Pfützen auf den Waldwegen, obwohl der Boden hier doch ausgesprochen sandig ist. Knorrige Wurzeln lassen Fußgänger stolpern und Radfahrer Slalom fahren. Warum ragen sie nur ausgerechnet auf den Wegen so hoch aus dem Boden?
Dass der Einsatz schwerer Technik das Wurzelwerk der Bäume schädigt, das Bodengefüge zerstört und zu Bodenverdichtung führt, ist hinlänglich bekannt. Kaum ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt sind hingegen die unmittelbaren Einflüsse des Menschen und seiner Haustiere: Ob zu Fuß, als Jogger, hoch zu Ross, via Bike oder Rollstuhl – das uns gering erscheinende Gewicht von einem bis zwei Zentnern je Schritt auf eine Sohle mit einer Fläche von im Schnitt ganzen 250 cm2 genügt trotz seiner kurzen Einwirkung vollauf, die Bodenporen zusammenzudrücken. Von allein wieder öffnen können sie sich nicht. Außerdem naht bald wieder ein Mensch, diesmal mit Hund, doch leider ohne Tüte.
Jahrelange Überdüngung ist ein weiteres Problem: Die alten Kiefern beispielsweise treiben nochmals durch, mehrstämmig jetzt und sind nun extrem gefährdet durch Stürme.
Den Bodentieren, sofern sie den Spaziergang überlebt haben, aber auch den Wurzeln der Bäume fehlt, abgesehen von der Beschädigung die sie erleiden, schlicht der Sauerstoff zum Atmen. Sie müssen an die Oberfläche wachsen, wo ihnen weitere mechanische Beschädigungen zugefügt werden. Beim Huf und bei Fahrrädern ist das Gewicht, das auf einer dann noch viel kleineren Fläche lastet, noch einmal deutlich größer. Mountainbikes und Motorräder, die querfeldein rasen, hinterlassen schlecht heilende Wunden im Boden des Geländes. Wer daran Zweifel hegt, mag sich zu Fuß oder mit dem Rad an den Rand eines frisch gepflügten und geeggten oder eines soeben bestellten Feldes begeben.
Groß ist dann die Überraschung, wenn die Tiefe der eigenen Spuren gemessen und mit jenen verglichen wird, die die schweren Landmaschinen kürzlich verursacht haben. Es gab mal eine Epoche, in der man Lokomobile einsetzte und Dampfpflüge betrieb. Die mit Seilwinden über den Acker gezogenen Pflugschare verdichteten den Boden kaum. Heute kann man diese für eine den Boden schonende Landbewirtschaftung wertvollen Exponate nur noch in Agrarhistorischen oder Freilichtmuseen besichtigen und die eigens für diese schweren Maschinen dreispurig gepflasterten Straßen noch vereinzelt entdecken, wo die Asphaltierung bisher unterblieb.
Wer einmal eine mit alten Bäumen bestandene Koppel oder im Zoo ein Gehege mit Wildrindern gesehen hat, wird sich erinnern, dass die Tiere gern unter den Kronen lagern oder einfach nur möglichst nahe am Stamm im Schatten stehen. Gras wächst dort kaum, nicht, weil es abgefressen, sondern weil es andauernd zertreten wird; doch auch die Bäume leiden unter dem Druck, dem ihre Wurzeln ausgesetzt sind. In der Tiergärtnerei hat man inzwischen gelernt, alte, wertvolle Bäume verbiss- und trittsicher einzuhegen. Der Kot der vielen Tiere wird sowieso regelmäßig entfernt.
Übermäßige Beweidung zieht also ebenso wie jede andere intensive Landnutzungsform gravierende Veränderungen des Bodengefüges und des Nährstoffhaushaltes nach sich. Der Wind und Wetter schutzlos preisgegebene Boden erodiert: Feinkörnige Mineralien und Humus werden bei heftigen Niederschlägen weggeschwemmt oder bei Stürmen vom Wind fortgetragen.
Wasserlösliche Mineraldünger können diesen Verlust nicht ausgleichen. Sie finden sich größtenteils in Oberflächengewässern wieder und reichern sich im Grundwasser an. Wo eine schützende Pflanzendecke fehlt, kann ausgedörrter Boden auch kein Wasser aufnehmen. Es fließt ab oder verdunstet sogleich wieder. Insbesondere bei schweren, verschlämmten und danach verkrusteten Böden kann helfen, an den tiefsten, unter Wasser stehenden Stellen den Boden punktuell aufzugraben, damit es eindringen kann.
Erinnern wir uns an die drei Ebenen der Biodiversität, so wurden bisher nur Beispiele für die Verdichtung und die Erosion auf dem Level der Lebensräume betrachtet. Unter dem Begriff der Gen-Erosion versteht man in der Kulturpflanzenforschung den auch bei Haustieren zu beobachtenden Verlust an innerartlicher Vielfalt. Die Bestände auf den Feldern und in den Ställen werden immer größer, aber ihre jeweilige genetische Basis dabei immer enger. Die vielen Bezeichnungen für Tier-Rassen und Pflanzen-Sorten dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie trotz völlig anderer Namen innerhalb der Art jeweils sehr eng miteinander verwandt sind. Das einstige Kontinuum an Eigenschaften ist einer Häufung bzw. Verdichtung von Merkmalen um künstlich erzeugte Stabilitätsinseln gewichen.
Im Chemieunterricht ist uns etwas Vergleichbares beim Periodensystem der Elemente begegnet: Es gibt nicht jede beliebige Anzahl Protonen + Neutronen, die unter natürlichen Bedingungen als Atomkern über einen längeren Zeitraum stabil bleiben kann und daher die Bezeichnung „Element“ verdient. Bestimmte Isotope mit gleicher Protonen- und Neutronenzahl sind häufiger als andere, die mehr oder weniger schnell wieder zerfallen. Sicher, der Vergleich hinkt, denn bei kaum einer Pflanzen- oder Tierart gibt es nur zwei oder drei Isotope – sprich Sorten oder Rassen. Doch was sind diese wenigen hoch domestizierten Reinzuchten in den gegenwärtigen Massenbeständen – verglichen mit der einstigen Vielfalt in kleinbäuerlichen Strukturen?
Abschließend, und um auch die Erosion auf der Artenebene anzusprechen, noch einmal kurz zurück zum Ausgang dieser kurzen Betrachtung, dem Waldspaziergang. Neben der unermüdlichen Sammelleidenschaft der Pilzsucher, der zunehmenden Sommer-Trockenheit und dem Absterben vieler Bäume sind die Erosion, die Überdüngung und die Verdichtung der Waldböden genug Gründe dafür, dass die Mykorrhiza-Pilze immer seltener werden. Wir Menschen sind vor allem auf die Wahrnehmung optischer Reize getrimmt (oder konditioniert, auf die visuelle Wahrnehmung mit den Augen). Es folgen die akustischen (Gehör), doch erst nach Hörfunk und Fernsehen die anderen Sinne: Auf olfaktorische Reize (Gerüche) ist die Nase spezialisiert. Gustatorische (Geschmack) und taktile (Tastsinn) gehören ebenfalls zu den klassischen fünf Sinnen des Menschen.
Wir spüren schon einen Unterschied, wenn wir über Beton oder Asphalt gehen, über eine Wiese oder einen mit Nadeln, Moos und Flechten bedeckten Waldboden. Wir hören unsere Schritte oder nur das Rascheln der Halme und das Knacken der Zweige. Wir werden den Geschmack der vielen essbaren Waldpilze erst vermissen, dann vergessen und uns stattdessen billig mit Zuchtchampignons und Holz abbauenden Kulturpilzen wie Shiitake und Austernseitlingen abspeisen lassen.
Weit schlimmer als eine Verdichtung des Konsumverhaltens auf Zuchtpilze ist der fehlende Duft nach Waldpilzen in der Herbstluft, denn er ist ein zuverlässiger Indikator für einen bleibenden Verlust an Artenvielfalt und an Lebensqualität: Fast alle Mykorrhiza-Pilze widersetzen sich erfolgreich der Inkulturnahme. Ihr unheimliches Verschwinden steht beispielhaft für all jene Arten, die nur in der unzähmbaren Wildnis vorkommen. Vielerorts haben wir sie schon ausgerottet. Wir sind aber mindestens bisher noch nicht in der Lage, sie uns zu unterwerfen, sie zu kultivieren und zu domestizieren. Respekt!
tg 2020-10-14