Der Herbst kommt und es sind einige Monate ins Land gegangen, seit wir unsere Beete eingerichtet, vielerlei Gemüse gesät und gepflanzt haben. Alles gedeiht richtig üppig, sogar in den Balkonkästen: Hier blüht jetzt das Basilikum. Es wird eifrig von Bienen besucht, während die ersten Früchte der ebenfalls noch blühenden Gartensenfrauke bereits reifen. Optisch können es unsere Pflanzen mit Nachbars Pelargonien und Petunien zwar nicht aufnehmen, aber stolz sind wir auf unsere Ernte nicht weniger als er auf seine sommerliche Blumenpracht.
Wir tauschen uns mit schöner Regelmäßigkeit aus und geben uns gegenseitig Tipps. Er freut sich über ein paar Radieschen ebenso wie über einen frischen Salat. Erst gestern gaben wir ihm ein Bund Palmkohlblätter und bunte Bete zum Probieren. Die geringelten und die gelben kannte er noch nicht. Dafür beherzige ich seine Ratschläge beim Schnitt unserer Rosen besonders sorgfältig und bin gespannt, ob er im nächsten Jahr auch ein Gemüsebeet anlegen wird. Zugesagt hat er es.
Als Familie verbringen wir möglichst viel Zeit gemeinsam auf dem Sitzplatz, essen gern draußen, spielen oder lesen und genießen hier auch die lauen Sommerabende bis weit in die Nacht hinein. Unser Garten ist recht klein. So können wir von hier oder vom Balkon aus alles gut überblicken, nehmen daher auch jede Bewegung und Veränderung in den Beeten sehr bewusst wahr. Unsere Beobachtungen notieren wir sorgfältig und vergleichen beispielsweise die Auswirkungen der unterschiedlichen Kulturtechniken. Daran ist die ganze Familie beteiligt. Einig sind wir uns inzwischen darüber, dass das Gemüse im Hochbeet deutlich mehr Wasser braucht als die Pflanzen in den ebenerdigen Beeten. Es steht übrigens auf einer Palette. Im wandernden Schatten des kleinen Apfelbäumchens herrscht somit zwar keine Wurzelkonkurrenz, doch die lichthungrigen Gemüsepflanzen werden hier nicht ganz so groß. Das Hochbeet schluckt unglaublich viele Kannen Wasser, ehe ein paar Tropfen davon unten wieder austreten. Doch es trocknet auch schnell wieder aus, was sicher nicht nur an unserem Sandboden liegt.
Im vergangenen Jahr haben wir alle Beete weniger gegossen und konnten mit ansehen, wie Spatzen darin ihr Sandbad nahmen und sich sonnten. Das Gemüse wuchs nur kümmerlich. Wegen der freien Sicht hatten Katzen keine Chance, die Vögel zu überraschen. In diesem Jahr ist alles ganz anders. Vielleicht suchen deshalb auch die Amseln besonders gern bei uns nach allerlei Getier für sich und für ihre Jungen. Die wenig zutraulichen Ringeltauben haben dem Palmkohl anfangs übel mitgespielt. Sie wissen offenbar auch, was schmeckt.
Leider bietet unser kleiner Garten für die Tierwelt kaum richtig gute Brut-, Nist- und Versteckmöglichkeiten. Igel schauen nur gelegentlich vorbei. Manchmal sonnt sich eine Eidechse vor der Südwand des Hauses. Das „Insektenhotel“ wirkt unbewohnt und wird von einer Kreuzspinne „bewacht“. Umso mehr haben wir uns gefreut, als an mehreren Abenden eine Erdkröte unter dem Hochbeet hervorkroch. Sie scheint sich hier häuslich eingerichtet zu haben. Eng, dunkel und feucht hat sie es dort und haben es auch die ihr als Nahrung dienenden Würmer, Schnecken und Asseln, Spinnen und Weberknechte. Sie ziehen sich tagsüber ebenfalls hierhin zurück. Unser Nachbar hat uns Bilder aus seinem Garten gezeigt, die seine Nachtsichtkamera automatisch aufgenommen hat: Waschbären finden sich regelmäßig ein und inspizieren u.a. seinen Teich. Katzen, Marder und ein Fuchs streifen vorbei, sie scheinen sich aber aus dem Wege zu gehen. Von nächtlichen Kämpfen zwischen den Arten haben wir zumindest nichts gehört. Dafür nervt uns der Katzenjammer diverser streitsüchtiger Stubentiger mitunter.
Abends beim Bier im Kerzenschein und im Lichte der Straßenlaterne fällt uns eine Fledermaus auf, die immer wieder ihre akrobatischen Flugkünste zeigt, wenn sie die Laterne umkreist, dann plötzlich knapp über dem Boden dahingleitet und sich wieder aufschwingt und so Insekten fängt. Einige Nachtschmetterlinge lassen sich einfach fallen, wenn sie die für uns unhörbare Ortung der Fledermäuse wahrnehmen. Geschicklichkeit und Bruchteile von Sekunden entscheiden dann über Leben und Tod.
Außerhalb des Lichtkegels, auf den festgetretenen Wegen, wagen sich jetzt die fetten Tauwürmer zu gut einem Drittel ihrer Länge aus ihren Wohnröhren im Boden. Haben sie ein herabgefallenes Blatt gefunden, ziehen sie es geschickt hinein und verwandeln es in die bekannten Kothäufchen an der Erdoberfläche. Besonders liebevolle Menschen, sammeln die frischen Häufchen als natürlichen Dünger für ihre Pflanzen. Die geringste Erschütterung oder das kurze Aufleuchten einer Taschenlampe, schließlich die Morgendämmerung lässt die Tauwürmer flugs wieder in ihren Röhren verschwinden. Sie haben zwar keine Augen, doch die gesamte Körperoberfläche ist überaus lichtempfindlich.
Wie mag es wohl im Boden ausschauen, wo doch Tag und Nacht Dunkelheit herrscht? Das Sonnenlicht durchdringt und erwärmt nur die oberste Schicht. Darunter bleiben die Temperaturen und die Feuchtigkeit relativ konstant. Das Porenvolumen ist gering, und außer dem angerotteten Pflanzenmaterial, das wir eingearbeitet haben, wird der Nährstoffgehalt des Bodens mit zunehmender Tiefe immer geringer. Das Umgraben bringt Luft in den Boden und erleichtert so auch größeren Lebewesen das Leben im und auf dem Boden: Maulwürfe haben wir zum Glück nicht, und Mäuse bleiben selbst über Winter fern, weil ihnen in unserem Garten die Nahrung und Versteckmöglichkeiten fehlen.
Nein, es sind viel kleinere Tiere, Käfer, Zweiflüglerlarven, Asseln, Hundert- und Tausendfüßer. Sie alle wissen die Hohlräume geschickt zu nutzen. Unzählige Milben und Springschwänze hausen hier. Die weißen Enchyträen sind viel kleiner als Regenwürmer und fressen selektiver als diese, nehmen keine Erde mit auf und tragen daher kaum zur Humusbildung bei. Was die größeren Arten ausscheiden, nachdem es teils mehrfach ihre Därme passiert hat, ist Nahrung für viele andere, kleinere. Außerdem finden Pilzsporen und Bakterien, Einzeller und Ruhestadien winziger Wirbelloser so eine weite Verbreitung in der oberen, biologisch besonders aktiven Bodenschicht.
Nach einem Regen oder beim Umgraben nimmt man den markanten, intensiven Erdgeruch besonders gut wahr. Im Wald riecht es wieder ganz anders; offenbar, weil hier das Bodenleben ganz andere Bedingungen vorfindet bzw. sich stets wieder aufs Neue schafft.
Mit unbewaffnetem Auge nehmen wir von all dem kaum etwas wahr. Gibt man nun tropfenweise etwas Wasser in eine Untertasse mit einem Teelöffel voll Gartenerde oder auf ein Moospolster, das vom Dach gerutscht ist und länger auf dem Boden lag, retten sich die kleinen Bewohner und kommen auf dem höchsten, noch trockenen Punkt zusammen. Hier können wir sie und ihre Überlebensstrategien mit einer Lupe gut beobachten.
Ganz anders, wenn wir ein Präparier-Mikroskop zu Hilfe nehmen! In der Schulzeit haben wir Pantoffeltierchen und andere Kleinstlebewesen in einem Heuaufguss beobachtet, den der Lehrer ein paar Tage zuvor angesetzt hat. Wiederholen wir dieses Experiment mit etwas Boden aus den oberen Schichten unserer Bete oder verwenden wir etwas Mulch dafür, bekommen wir einen winzigen Einblick in das überbordende Leben, das im zu Recht als Mutterboden bezeichneten Erdreich siedelt. Um die lichtscheue Tierwelt in Ruhe beobachten zu können, verzichten wir auf künstliche Beleuchtung und direktes Sonnenlicht, das den Tieren aus einem Heuaufguss viel weniger schadet.
Die größte Aktivität im Boden findet ausgerechnet in den Jahreszeiten statt, in denen das Leben in der Natur zum Erliegen gekommen scheint, im Spätherbst und im Winter, bis in das zeitige Frühjahr hinein! Der Laubfall sorgt für reichlich Nahrung und Versteckmöglichkeiten; es ist kühl und feucht. Das sind genau die Bedingungen, die zahlreiche Bodenorganismen bevorzugen – oder genauer gesagt, es sind die Bedingungen, an die sie sich im Laufe ihrer Evolution angepasst haben. Wenn die Streuzersetzer ab dem Herbst eine Massenentwicklung durchmachen, finden sich alsbald auch Räuber ein, die die gewaltigen Individuenzahlen wieder dezimieren, Raubmilben, Hundertfüßer und Spinnen, Kurzflügel- und Laufkäfer beispielsweise. Es ist ein sehr komplexes System mit vielen, noch kaum erforschten gegenseitigen Abhängigkeiten.
Wie ärmlich erscheint demgegenüber unsere plumpe Einteilung in Nützlinge und Schadorganismen, wenn wir ausschließlich unsere Nahrungspflanzen im Blick haben, wenn wir um deren, also eigentlich nur um unser eigenes Wohl besorgt sind und uns schon schwertun, die allgegenwärtigen Ameisen zu tolerieren, die unermüdlich den Sand unter dem Pflaster unseres gepflegten Sitzplatzes ans Tageslicht fördern und die in „unseren“ Beeten ihre eigenen „Haustiere“ versorgen, die Pflanzensaft saugenden, Honigtau ausscheidenden Blatt- und Wurzelläuse.
tg 2021-07-29