In unserem Beitrag zur Biodiversität innerhalb der Art, der „genetischen Vielfalt“, sind wir bereits auf den Dreiklang der Vielfalt im Bezug auf Lebensraum, Arten und innerhalb der Arten eingegangen. Selbstverständlich können die Unterschiede, kann die Variabilität von Arten und höheren taxonomischen Ebenen wie Gattungen, Familien etc. auch mit molekulargenetischen Methoden untersucht und dargestellt werden.
Doch je geringer die mit bloßem Auge wahrnehmbaren Unterschiede sind, desto feiner müssen die Untersuchungsmethoden sein, die man zu Hilfe nimmt. Wo Lupen und Licht-Mikroskope an ihre Grenzen stoßen, werden Elektronen-Mikroskope eingesetzt oder Techniken angewendet, die sich zur Darstellung optisch nicht erkennbarer Merkmale eignen. Erst die Zusammenschau der Ergebnisse aller Untersuchungsmethoden ergibt ein Modell, das den natürlichen Gegebenheiten nahe kommt. Zum Beispiel - mit Blick auf die Verwandtschaftsverhältnisse einer Organismengruppe - ein Modell, das deren evolutionäre Zusammenhänge und die Entwicklungsschritte nachzeichnet, die sie unterscheidbar machen.
Der Entomologe Willi Henning (1913 - 1976) gilt als Begründer der phylogenetischen Systematik, die heute auch als Kladistik bekannt ist. Als Klade oder monophyletische Gruppe wird eine Abstammungsgemeinschaft bezeichnet, die auf gemeinsame Vorfahren zurückgeht. In der Regel ist diese Wurzel eine Stamm- oder Ausgangsart. Treten neben den arttypischen Merkmalen plötzlich neue, davon ableitbare Eigenschaften auf und führen diese dann sogar zur Bildung oder Abspaltung einer Gruppe, eines neuen Zweigs oder gar Astes des Stammbaumes, so wird dieses Ergebnis einer kladistischen Verwandtschaftsanalyse in einem noch sehr einfachen Kladogramm dargestellt, das nun zwei Schwestergruppen enthält. Jede dieser beiden sich unabhängig weiterentwickelnden Stränge kann sich nun ebenfalls wieder aufspalten und neue Gruppen hervorbringen, die sich aber immer anhand konkreter Merkmale auf die Ausgangsart zurückführen, von ihr ableiten lassen.
Am spannendsten sind natürlich immer die Ursprünge einer späteren Entwicklung, ist die Suche nach den Anfängen. Welches waren die ersten Abweichungen? Bei wie vielen Individuen traten sie auf? Gibt es Mischformen? Welchen evolutionären Vorteil boten die neuen Eigenschaften im Vergleich mit jenen der charakteristischen Stammart? Es kommt nämlich durchaus vor, dass eine der Gruppen gänzlich erlischt und nur die andere fortbesteht. Es können sogar ganze Zweige oder Äste veröden, wenn mehrere im Kladogramm benachbarte Gruppen aussterben.
Mit viel Glück findet man Übergangs- und zu den ursprünglichen Ausgangsarten vermittelnde Zwischenformen als Fossilien, wenn sie nicht als „missing links“ verschollen bleiben. Henning selbst schuf seine phylogenetische Systematik auf der Basis einer sich extrem schnell entwickelnden Insektenordnung, die er intensiv bearbeitete. Dabei bezog er selbstverständlich auch Bernsteineinschlüsse ein. Solche Funde sind wahre Glücksmomente für einen Insektenforscher, denn im Bernstein bleiben alle Merkmale über Jahrmillionen unverändert erhalten und können sogar einigermaßen genau datiert werden. Es waren die Dipteren oder Zweiflügler, für die sich Henning besonders interessierte. Fliegen und Mücken, Bremsen und Schnaken sind die bekanntesten Vertreter dieser Ordnung.
Mittlerweile wird das System der Kladistik auf die Darstellung von Verwandtschaftsbeziehungen nahezu aller Organismen angewendet. Der Nachweis einer genetischen Verwandtschaft bzw. Identität hat auch für uns und für unsere Gesellschaft durchaus praktische, justiziable Aspekte. Denken wir nach diesen für einige Leser sicher fürchterlich theoretischen Passagen nur an absichtlich oder versehentlich hinterlassene „genetische Fingerabdrücke“, an Vaterschaftstests, Geschwister- und Zwillingsforschung sowie an die Vorhersage beispielsweise von Erbkrankheiten. Ist es nicht phantastisch, daß inzwischen wirklich jeder Mensch als Unikat identifizierbar ist?
Kladogramme vermitteln ebenso wie Stammbäume eine ganz eigene Sicht auf die Ergebnisse der Evolution, denn sind nicht alle lebenden, also alle rezenten Organismen in ihrer Verschiedenheit gleich „hoch“ entwickelt und stehen sie damit nicht bereits höher als alle erloschenen Generationen der gleichen und aller anderer Arten? Bildet denn der Mensch als einzelne Art die „Krone der Schöpfung“ oder ist es nicht vielmehr die Gemeinschaft aller heute lebenden Individuen aller Arten?
tg 2020-09-02