Die Vielfalt, der Reichtum an Arten ist nach unserem heutigen Verständnis das Ergebnis der Evolution, der „natürlichen Zuchtwahl“ bzw. der „natural selection“, wie Charles Darwin es bereits im Untertitel seines epochalen Werkes „Die Entstehung der Arten“ so treffend formulierte. Variabilität, Veränderlichkeitfiel ihm zunächst bei domestizierten Arten, bei Kulturpflanzen und Haustieren auf. Kein Wunder, denn hier fördert der Mensch gezielt die Vermehrung auffälliger, seinen Wertvorstellungen entsprechender Exemplare und kommt damit meist deutlich schneller zu neuen, stabilen Populationen als sich in der Natur von allein etablieren können.
Andererseits fand Darwin aber auch bei den Wildarten zahlreiche Varianten. Zunächst sind es individuelle Unterschiede, gefolgt von lokalen und regionalen Ausprägungen bestimmter Merkmale, die eine Differenzierung fördern. Je weiter eine Art verbreitet ist, desto anpassungsfähiger muss sie sein und desto augenfälliger treten diese Anpassungen dann auch in Erscheinung. Die Überlebens-Chancen für Abweichler sind dann am größten, wenn sie nicht allein sind, keine einzelnen Individuen bzw. Ausnahmen darstellen, und wenn alle Träger wie auch immer geartete Vorteile aus der nur ihnen eigenen Merkmalskombination ziehen können.
Verhaltensänderungen haben in Mitteleuropa beispielsweise aus einem früher seltenen und scheuen Waldvogel wie der Schwarzdrossel oder Amsel einen der häufigsten Stadtvögel werden lassen. Ähnlich wie Haus- und Feldsperlinge geht diese Art jedoch bisher trotz abnehmender Fluchtdistanz keine enge Bindung mit dem Menschen ein. Sie lässt sich nicht zähmen und gilt im Unterschied zu der folgenden Art, der Haustaube, trotz ihrer außerordentlichen Stresstoleranz und wegen ihrer auffälligen innerartlichen Konkurrenz als nicht domestizierbar. Die in evolutionären Zeiträumen erst „kürzlich“ erworbenen Kultur- oder Domestikationsmerkmale gehen bei verwildernden Arten sehr schnell wieder verloren: Von den vielen aus der Haltung entflogenen, farbenprächtigen Haustauben überlebten und vermehrten sich anfangs nur die unauffälligsten – und wurden so zu den heute allgegenwärtigen Stadttauben – äußerlich ihrem Urahn, der scheuen, nicht weniger als 14 geographische Unterarten zählenden Felsentaube ähnelnd, eint sie ihre Anpassung an vom Menschen geprägte Lebensräume und der Verlust jeglicher Scheu vor ihm – mit dem Erfolg, dass die Stadttaube dem Menschen fast überall hin auf der Erde folgen und die Art ihren ursprünglichen Lebensraum auf diese Weise enorm vergrößern konnte.
Nicht viel anders laufen die Prozesse bei Pflanzen ab, wenngleich auch hier die Generationsdauer und die Abfolge der Genrationen wichtige Taktgeber sind, die Zeit von der Keimung des Samens bis zur Keimung des ersten wie auch des letzten an der daraus gewachsenen Pflanze gereiften Samens. Bei einjährigen Arten wie z.B. Radieschen oder Salat geht das naturgemäß sehr viel schneller und die Anpassungsfähigkeit ist deutlich größer als bei zweijährigen (Bete, Möhre) oder gar bei langlebigen Arten wie den Obstgehölzen, die erst im Alter blühen und Früchte ansetzen.
Bei den letzteren kommt noch hinzu, dass der Mensch für ihn interessante Sorten gern serienmäßig vegetativ vermehrt, nicht über Samen: Durch Veredlungstechniken und eine bestimmte Kombination von Unterlagen mit Stammbildnern und Edelreisern wird nicht nur die jeweils einzigartige, einmalige Merkmalskombination eines Individuums über Jahrhunderte lebend erhalten und genutzt. Es können auf diese Weise z.B. auch die Frostempfindlichkeit, die Wüchsigkeit, das Ertragsverhalten und die Lebensleistung eines Baumes beeinflusst werden. Als Beispiele für sehr alte Obst-Sorten seien die ‘Mirabelle von Nancy‘ genannt, um 1500 aus Asien nach Frankreich gebracht, ist sie bis heute eine der in Europa am häufigsten gepflanzten Mirabellen-Sorten geblieben und der ‘Edelborsdorfer‘, die älteste für Deutschland nachgewiesene Apfelsorte, die sogar auf das 12. Jahrhundert zurückgeht.
Menschliche Aktivitäten haben nicht nur Wildarten wie der Schwarzdrossel und der verwilderten Haustaube ihre heutige weite Verbreitung beschert. Obwohl nicht jeder absichtliche Einbürgerungsversuch gelingt – die Schwarzdrossel beispielsweise konnte sich in Amerika bis heute nicht etablieren, stellen weder die absichtlichen noch die unabsichtlichen bzw. die unerwünschten Freisetzungen Bereicherungen für die heimische Artenvielfalt dar. Genau wie Tiere aus der Haltung entkommen und sich in Freiheit vermehren können, vermögen es auch Pflanzen, sich selbständig zu machen.
Bekannte Beispiele dafür sind die aus Südamerika stammenden Knopfkräuter, die schon zu Napoleons Zeiten aus Botanischen Gärten „entflogen“ sind und seither auch als Franzosenkräuter bezeichnet werden. Die in Nordamerika als „ragweed“ gefürchteten, heftige Allergien auslösenden Taubenkräuter (Ambrosia spp.) machen sich von der öffentlichen Wahrnehmung kaum beachtet längs der Europäischen Verkehrswege, insbesondere der Autobahnen ebenso breit wie das giftige, aus Afrika stammende Schmalblättrige Kreuzkraut (Senecio inaequidens DC.).
Wissenschaftliche und wirtschaftliche Interessen haben neben vielen anderen Arten die amerikanischen Mammut- und Abendländischen Lebensbäume, die Douglasien und Robinien, aber auch die chinesischen Blauglocken-, Ginkgo- und Götterbäume absichtlich nach Europa eingeführt, wo einige von ihnen nun invasiv immer tiefer in die Reste der natürlichen Vegetation vordringen, diese teils unterdrücken oder gar ersetzen. Neobiota heißt der Oberbegriff, unter dem Neophyten (gebietsfremde, neue Pflanzen), Neozoen (Tiere) und Neomyceten (Pilze) zusammengefasst werden. Einmal etabliert, ist ihnen kaum noch beizukommen. Da heimische Baumarten wie Rotbuche, Waldkiefer, Fichte und Weißtanne der zunehmenden Dürre und Hitze wenig entgegenzusetzen haben, großflächig Schädlingen zum Opfer fallen und schließlich absterben, sind nicht wenige Menschen zunehmend geneigt, die Neophyten wegen ihrer Robustheit als Ersatz zu tolerieren, ja in den Zeiten des Klimawandels und zum Leidwesen des Naturschutzes sogar eigens anzupflanzen.
Entlaufene oder absichtlich freigesetzte Nutztiere wie Bisamratte, Marderhund, Mink und Waschbär, wie die Halsbandsittiche, wie die Chinesische Wollhandkrabbe, die Amerikanische Kiefernwanze, die Rosskastanien-Miniermotte und der Asiatische Laubholz-Bockkäfer, um nur einige dieser invasiven, teils seit langem etablierten Arten zu nennen, sie verändern die heimische Flora und Fauna gravierend.
Bei ihren Wanderungen, ehe sie sesshaft wurden, haben die Menschen neben ihren Haustieren schon immer auch Früchte, Samen und Pflanzen mitgenommen, sie mit ihren Nachbarn getauscht. Geld gab es noch nicht, der Tauschhandel blühte. Ernährungssouveränität wurde damals ganz großgeschrieben, auch wenn zu jener Zeit noch kaum jemand lesen und schreiben konnte, diese Vokabel mit Sicherheit noch nicht einmal erfunden war. Heute haben wir fast vergessen, dass die wenigsten „unserer“ Kulturpflanzen ihren Ursprung in Mitteleuropa haben.Seemangold und Sellerie gehören dazu, einige der knapp 30 Minze-Arten beispielsweise. Fast alles andere wurde eben eingetauscht, die Anbautechnik übernommen, das Wissen um die Lagerung, die Verarbeitung, die Giftigkeit ähnlicher Arten.
Zur Zeit der Jäger und Sammler, lange vor der Erfindung von Pflug und Spaten, benutzten unsere Vorfahren Grabstöcke. Mit deren Hilfe legten sie essbare Wurzeln, Knollen, Rhizome und Zwiebeln von Wildpflanzen frei, von denen sie sich ernährten. Doch was wissen wir über die Suche nach den Wuchsorten, über die angewendeten Techniken, über die begehrtesten Pflanzenarten und über deren Zubereitung? Wurden die Bestände komplett gerodet oder bestimmte Stadien geschont? Ließ man kleine Pflanzen stehen, um sie später zu „ernten“, säte man bereits aus, gab es Traditionen, die eine Kultur begründen halfen?
Die meisten unserer Nahrungspflanzen stammen ursprünglich aus fernen Regionen, auch die Zutaten für unser tägliches Brot – und für das abendliche Bier: Gerste, Weizen, auch Roggen haben ihren Ursprung im Orient. Die ältesten Nachweise des Saathafers in Europa sind rund 4.400 Jahre alt. Ein wirtschaftlicher Reisanbau diesseits der Alpen ist bis heute nicht möglich. Die Rispen-Hirse stammt aus Zentralasien, die Kolben-Hirse vermutlich aus China und die Sorghum-Hirse aus Afrika, der Mais kommt wie der Indianerreis aus Amerika. Himmeltau oder Manna, heute besser bekannt als Blutfennich oder Blutrote Fingerhirse kommt in Südeuropa und Nordafrika wild vor. Entspelzt, zerstampft und mit Milch oder Wasser zu Brei gekocht, waren ihre winzigen Früchte für lange Zeit ein wichtiges Nahrungsmittel. Heute ist sie ein gefürchtetes Garten- und Ackerungras, das sogar in Pflasterfugen gedeiht und sich erfolgreich ausbreitet, dank menschlicher Unachtsamkeit weltweit.
Obst und Gemüse, Heil- und Würzpflanzen, technische Kulturen, Forst- und Schattenbäume, Zierpflanzen, Rasengräser, alles was Menschen für die Annehmlichkeiten ihres Lebens in irgendeiner Weise gebrauchen können, wird zunächst wild gesammelt, dann in Kultur genommen, über sorgfältige Auslese den individuellen und den gesellschaftlichen Erfordernissen schrittweise angepasst. Dieser Artenreichtum mit seiner innerartlichen Vielfalt ermöglichte es uns Menschen erst, eine stetig wachsende Weltbevölkerung zu ernähren und zu kleiden, Städte und Reiche, moderne Staaten zu gründen.
Heute riskieren wir, unentdeckte Potentiale für unsere eigene und für die Zukunft unseres Planeten zu zerstören, wenn wir dem Artensterben wie auch dem wachsenden Einfluss invasiver Neobiota nicht endlich energisch Einhalt gebieten. Dazu gehört es auch, die innerartliche Vielfalt nicht länger zu vernachlässigen. Es sind nämlich gerade die wenig oder nur selten verwendeten, die vernachlässigten Arten und nicht zuletzt die alten, robusten, keineswegs immer die ertragreichsten, aber die ertragssichersten Sorten, die als lebendes kulturelles Erbe der Menschheit nur dann einen Wert für uns darstellen und behalten können, wenn wir ihr Überleben durch eine nachhaltige, verantwortungsvolle Nutzung gewährleisten.